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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Wiederholung gefaßt.« Danke, sagte Senta damals, mehr beeindruckt von der mütterlichen Fürsorge, mit der die Dame sie wachrütteln wollte, als daß sie die Richtigkeit der Einsicht bestochen hätte. Erst Jahre später, nachdem sie eine erste Wiederholung eingeholt hatte, wußte sie die Weitsicht der Fremden zu bewundern. Leider weilte die Dame da schon in einem anderen Universum, in das Senta ihren zweiten Dank nur hätte übermitteln können unter Zuhilfenahme eines obskuren Mediums mit glühenden Handflächen.
    In Mesopotamien war der Mond, Sin, noch männlich und sogar mächtiger als Schamasch, der Sonnengott. Erst in der griechischen Mythologie gab es Selene, die Schwester des Helios, ihres Zeichens Mondgöttin, Herrscherin über den Rhythmus der Natur, das Meer, lange Reisen, die Körperflüssigkeiten sowie die Organe, die sie hervorbringen. Daß ein Erbe auch eine Flüssigkeit sein konnte, war Senta lange nicht gegenwärtig. Es war durch jeden ihrer Vorfahren hindurch geflossen, es hatte sich angereichert, es war weitergezogen, es war eine dicke, zähflüssige Suppe, mitunter schon ordentlich verseucht, aber es gab keine neue, einfach irgendwo zu kaufen, es floß in sie hinein, sie war einfach nur ein weiteres Gefäß in einer Folge von Gefäßen, es füllte sie auf, fand seinen Weg, ließ sie durstig oder besoffen werden, je nachdem, wozu es gerade bereit war, in seinen Fluten taumeln oder ruhig dahintreiben. Durch geschickte Manöver schloß es, so Sentas Eindruck, aus, daß sie zu einfach an ein Ufer kommen konnte. Sie hatte sich seinem Wellengang angepaßt, seiner Ebbe und Flut, und lernte mit den Jahren, daß nicht sie es war, die Entscheidungen traf, handelte, sprach oder träumte, sondern dieses Gewässer, das das Strandgut ihrer Vorfahren mit sich führte.
    Nachdem Nadja den Scherbenhaufen auf dem breiten Bürgersteig noch einmal angeschaut hatte, zugleich das Klingeln an ihrer Haustür ignorierte, setzte sie sich ans Klavier und spielte in fast vollkommener Ruhe Mozartsonaten. Die hatten sie zeitlebens gelangweilt. Aber jetzt entsprachen sie ihrer Gemütsverfassung. Nach zwanzig Sonaten hörte sie auf, öffnete den Deckel des Klaviers, sie mußte nicht suchen. Sie fischte das Portrait des Mannes heraus, den sie nach wie vor über alles in der Welt verehrte, sie brachte ihm die Zuneigung eines Kindes entgegen, im Grunde bedingungslose Liebe, in der stillen Hoffnung, etwas in der Art von ihm zurückzubekommen. Über die Jahre hinweg, nach seinem Tod, hatte sie beharrlich alle Aufklärungsversuche ignoriert, die Historiker betrieben, damit gerade Menschen wie sie ihre Meinung über diesen Mann änderten. Es war keine Ignoranz, im Gegenteil.
    An dem Tag, an dem Nadja spürte, daß ihre Stunden gezählt waren und sie mit dem Bild des Mannes, der so freundlich dreinschaute, am Fenster des Berliner Zimmers die Zeit verstreichen ließ, an diesem Tag lehnte Senta einige Kilometer weiter im Zentrum der Stadt in den Armen eines Mannes, hinter ihnen einer der eher unauffälligen Übergänge. Dieser Übergang wirkte eilig zusammengezimmert, trotzdem grundsolide und für eine separatistische Ewigkeit gebaut.
    Senta hielt nicht wie ihre Mutter ein Bild in den Händen, sondern Gregors wahrhaftigen Körper, sie spürte seine kantige Festigkeit, seine muskulöse Präsenz unter dem groben Strickpullover, dem Leinenhemd. Er trug einen Elbsegler, der an eine Baskenmütze erinnerte, er wirkte wie ein Kapitän, der gleich sein Schiff bestieg, ohne Zweifel überzeugt davon, noch einen neuen Kontinent entdecken zu können. Er hatte den Beschluß gefaßt, die Seite zu wechseln, endlich die muffige, bewegungslose Bundesrepublik zu verlassen, inderen Fundamenten sich gerade die einzumauern schienen, die aus dem Krieg das größte Schweigen mitgebracht hatten. Gregor, der maritime Mann in Sentas Armen, hatte beschlossen, nicht in diesem Schweigen und dem mühsamen Protest dagegen säuerlich zu werden, schlußendlich zu versauern. Er wußte, daß es Leichtsinn war, er mochte dieses Spielerische, das im Leichtsinn steckte, er spürte eine unbändige Kraft in sich, er hätte Steine verschieben können, ganze Mauern aufbrechen, er wollte diese Kräfte nur zu einem Zweck einsetzen: den realen Sozialismus siegen zu lassen. Er war erfüllt von einer Zuversicht, einem unangenagten Glauben, daß die Welt veränderbar war, daß Paradigmenwechsel nicht an Generationen, daß selbst Revolutionen an die Taten einzelner Menschen gebunden

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