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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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es vorbei war. Beide hatten sich entschieden, die Mauer zu bauen, zu verputzen, wo nötig, immer weiter aufzustocken, um diese Hinterlandsicherung dann Stück für Stück zu übersehen, sie durch Gewohnheit zur Nebensächlichkeit zu erklären. An ihr lernten beide das Ignorieren, an ihr entlang konnten sie Tag für Tag leben, ohne noch die Absicht zuspüren, die Grenzziehung in Frage zu stellen oder eine Revolution zu ihrem Niederriß zu planen. Sie richteten sich ein mit ihr. Anton verfolgte immer weniger Spione, die ins feindliche Lager wechselten, Weltpolitik wurde für ihn so etwas Abzuhakendes wie die tägliche Morgentoilette. Nadja glühte im Klavierspiel, verschleuderte ihre Leidenschaft. Und während Anton sich immer wieder selbst darin bestärkte, es doch alles richtig gemacht zu haben, in dem Spielraum, der ihnen geblieben war, und weiterhin alles dafür zu tun bereit war, daß sich nichts veränderte, spürte Nadja mehr und mehr, wie ihr Herz unterm Eis schlug, und wie ihr zugleich die Kraft ausging, es in der Kälte weiter am Schlagen zu halten.

S ie spürte einen Luftzug, mehr nicht, der vorbeizog und für Sekunden die Bilder in ihrem Kopf, die sie für überdauernd gehalten hatte, durcheinanderwarf. Hätte man sie in diesem Augenblick gefragt, wo sie herkam, sie hätte nicht sagen können: Moskau oder Jaroslawl oder Berlin. Sie fand den Namen ihrer Mutter, ihres Vaters nicht. Sie hatte vergessen, wie sie hierhergekommen war. Sie setzte sich ans Klavier, legte die Hände auf die Elfenbeintasten und suchte in sich nach so etwas wie einer Melodie, aber da waren nur Schnipsel, zusammenhanglose Töne. Sie stand auf, ging in die Küche, das Zimmer der Wohnung, das ihr am deutlichsten davon erzählte, was sie in ihrem Leben alles nicht gemacht hatte, sie räumte in ruhigen, präzisen Bewegungen das Geschirr aus den Oberschränken, das Besteck aus den Schubladen, die Töpfe aus dem Unterschrank. Sie betrachtete das Inventar, als plane sie, es für die Nachwelt einzuteilen. Dann räumte sie die Töpfe und das Besteck wieder zurück, es eignete sich für ihre Sache nicht. Sie ging sehr ruhig und klar vor, da war nichts von einer Rachsucht oder etwas Kleinherzigem. Sie trug das Geschirr auf den Balkon, schaute vom dritten Stock hinunter auf die Straße und warf die ersten drei Teller. Die stürzten zu Boden, zerschellten mit einem gestaffelten Knall, der etwas von einem Kavallerieschuß hatte, die Splitter flogen weit über den Bürgersteig. Nadja entledigte sich drei weiterer Teller, dann probierte sie eine Tasse aus, die sich eifrig in der Luft drehte, als studiere sie im Fall nochMöglichkeiten, sich selbst aufzufangen. Die Untertassen klirrten nur dürftig. Ein Suppenteller zerbrach auf den bereits liegenden Scherben in zwei Teile. Schon waren die Nachbarinnen zugegen und kommentierten hinter vorgehaltenen Händen und Gardinen das Dilemma. Es war kein schöner Krach, aber es war Krach, und Nadja genoß es, ihn zu verursachen.
    Senta erbte demnach weniger Teller oder Tassen. Sie erbte eher größere Bestände an ungelebtem Leben. Dann übernahm sie von Anton die einfache Hoffnung, daß man selbst in Horoskopen noch Orientierung finden konnte. Daß es hilfreich war, an Bestimmungen zu glauben, die gleichwohl aus dem Stand der Sterne, den zahlreichen Häusern oder irgendwelchen Konjunktionen herauszulesen waren. Es ging um den kleinen Moment der Bestätigung, nicht aus der Welt gefallen zu sein. Auch Senta kannte den drängenden Wunsch, alles richtig zu machen, niemanden zu enttäuschen, ohne jemals klar vor Augen zu haben, worin das Richtige bestand oder andererseits die Enttäuschung. Aber vor allem schaffte sie es, und das war ihre Kunst, aus dem Mangel eine Fülle zu generieren, einfach weil sie fünf Kinder gebar und somit dem umfassenden Gefühl, einsam zu sein, eine Quirlhorde Lebendigkeit entgegensetzte.
    Daß all das dazu dienen sollte, die unerklärliche Angst in Grenzen zu halten, die sie natürlich ebenso mitgeerbt hatte, das verstand Senta erst, als eine Wahrsagerin, die sich damals schon professionalisiert ›Lebensberaterin‹ nannte, einen knappen Blick auf das Rad ihrer Sterne warf und ausrief: »Der Nebelwerfer im vierten Haus, im Quadrat zu Ihrer Sonne im ersten, mein Gott, wie tappen Sie durchs Leben, in halber Umnachtung, Sie lunare Persönlichkeit! Sie haben ein schlechtes, ein sehr schlechtes Gedächtnis, es hält Sievom Erinnern ab, aber ich sage Ihnen, machen Sie sich auf ewige

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