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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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Entscheidung getroffen zu haben. Nicht diese Nostalgie, die ihre Mutter pflegte, dieser mollschwere Aberglaube daran, daß sie an einem anderen Ort ein anderes Leben gehabt hätte. Stimmt, sagte sie in Gedanken zu ihrem Vater und spürte in dem Moment, wie grenzenlos ihre Bewunderung für Anton war, ich weiß noch, wie es ist, auf Holz zu kauen, an einem viel zu kleinen Feuer zu frieren. Aber alles besser als einem unberechenbaren Herrscher ausgeliefert sein, einem wahnhaften Despoten, der eine Religion mit sich als Gleichgöttlichkeit zum Staatsmodell erklärte.
    Ihr Vater war ein Realist. Diese pragmatische Haltung zum Leben lag ihr näher als die mütterliche Welt der Illusionen.
    Während Nadja am Fenster stand und auf ihren Herzschlag hörte, der immer unregelmäßiger kam und ging, wie es ihr schien; während dieser schockähnlichen Starre, in der Nadja gefangen war, stieg ihre Tochter in eine der frisch ausgebauten U-Bahnen, um zurück nach Charlottenburg zu fahren, in die Wohnung ihrer Eltern. Im Rattern und Quietschen, im Murmeln fremder Stimmen, zwischen Zigarettengeruch und Salbeibonbonatem beschloß sie, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen. Nicht unbedingt die ganze Wahrheit, das war nicht notwendig. Sie kam zu der Überzeugung, Gregor und seinen Seitenwechsel außen vor zu lassen. Sie wollte ihrer Mutter sagen, daß sie schwanger war, unter Aufwartung ihres gesamten Selbstbewußtseins ihrer Mutter in die Augen schauen und sagen, daß sie das Kind zur Welt bringen würde. Ein Vater dazu würde sich finden lassen, das wußte sie.
    Einige Minuten bevor Senta am Haus ankam, im 12-Uhr-Glockengeläut der nahe stehenden St.-Johannes-Kirche das zertrümmerte Porzellan betrachtete, ohne es mit ihrer Mutter in Zusammenhang zu bringen, hatte Nadjas Herz das letzte Mal geschlagen. In einem Augenblick panischer Gegenwärtigkeit hatte sie darauf gewartet, daß es einfach immer so weiterginge mit dem Schlagen, wie sie es gewohnt war, anders konnte es doch nicht sein. Dann hatte eine Ohnmacht ihr das Bewußtsein genommen. Nadja rutschte vor dem Fenster des Berliner Zimmers auf den Boden, ohne noch zu wissen, daß sie Stalins Bild festhielt.
    Senta betrat das Wohnzimmer vom Flur aus, blieb im Türrahmen stehen, sah von dort nur die Füße ihrer Mutter in ihren Hausschuhen, die Fesseln unter dem hautfarbenen Nylon, ihr Körper ansonsten verdeckt durch die Bettcouch, die tagsüber ein passables Sofa war. Senta spürte, wie ihr Herz unregelmäßig zu schlagen begann, jedoch doppelt so schnell, als wisse es um die letzten Minuten des mütterlichen Herzens und suchte nach helfendem Ausgleich. Sie sah den offenen Deckel des Klaviers, darin die obersten Drähte und Kolben, all das technische Zeug, das mit seinem Klang nicht in Verbindung zu bringen war, den weit abgerückten Hocker und das geschlossene Breitmaul. Ein Vogelzwitschern von draußen, das viel zu liebliche, fast stumpfsinnige Taubengegurr, ihr eigener Atem, wie er nur in die halbe Lunge hineinreichte, darunter saß irgendetwas. Ist der Tod noch im Raum, scheint die Zeit stillzustehen, dieser russische Kalenderspruch fiel ihr ein. An ihm hielt sie sich fest. Um von dort zum nächsten Gedanken zu klettern. Sagte man nicht, Spiegel könnten Risse bekommen, Bilder von den Wänden fallen, fast eher noch als Uhren stehenblieben. Niemals einen Spiegel im Raum, in dem ein Mensch gestorben ist. Sie sah sich um, entdeckte keinen, eine kurze Erleichterung. Dann fror sie wieder ein in der Zeit, im Betrachten der Pantoffelsohlen, des Nylons, der Zartheit der mütterlichen Fesseln. Sie wünschte ihren Vater herbei, ihren Bruder, sie rief leise ihre Namen, ließ Minuten im Herbeisehnen von Hilfe verstreichen und spürte nach einer langen Zeit, vielleicht einer halben, dreiviertel Stunde, daß es richtig war, daß sie hier bei ihrer Mutter war, allein. Sie sammelte ihren Mut zusammen, der angesichts der Unbegreiflichkeit bei jedem Menschen auf ein Minimum zusammenschrumpft, und ging Schritt für Schritt ins Zimmer hinein. Sie rückte das Sofa vom Fenster weg, sie spürte, wie der Körper ihrer Mutter ganz auf den Boden sank, sie mußte in diesem schmalen Korridor zwischen Fensterbrett und Sofarücken gestanden, sich weder hingesetzt noch anderweitig ausgeruht haben, und Senta überflutete das Gefühl, daß der Moment, in dem man starb,der Art entsprach, wie man lebte, zumindest bei Nadja war es so. Senta rückte die Couch noch weiter ins Zimmer hinein, bis sie einen Arm ihrer Mutter

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