Das Glück der Zikaden
zu Boden fallen hörte, Knochen auf Holz, kein Teppich dazwischen. Sie schloß die Augen, sie hatte zuviel Mitleid mit ihrer Mutter. Es war eine Traurigkeit, die sich ausschließlich auf Nadja bezog. Die nichts Selbstmitleidiges enthielt, und sie warf Senta mit der Wucht einer Welle um. Hinter der Trauer blitzte der Gedanke auf, daß es nur half, ihrer Mutter zu helfen, daß Mitleid und Nichtstun eine fatale Mischung waren, und sie öffnete mit einer Entschlossenheit die Augen, die so groß war, wie ihr Gegenspieler hier im Raum groß war, und schaute hinter das Sofa. Dort lag Nadja und sah aus, als sei sie nur ungünstig hinter dem Möbel umgefallen und stehe gleich wieder auf. In der Hand den dauerlächelnden Stalin, nach dem Senta zuerst griff, um ihn zurück ins Klavier zu legen. Aber auf dem Weg dorthin erschien ihr das als das Überflüssigste, was sie je gemacht hatte, und sie drehte um und kniete neben ihrer Mutter nieder. Sie strich mit der flachen Hand über die Augenlider, spürte die Wimpern und wie sie sich schlossen, sie hatte nur eine Zehntelsekunde den leeren Blick aufgefangen, der das Unheimlichste an allem war, und sie begann sich zu sagen, daß jeder Handgriff half, wenn er nur im vollkommenen Bewußtsein seiner Durchführung durchgeführt wurde. Senta griff nach Nadjas Handgelenken und legte die Arme links und rechts eng an den Körper. Sie streckte Nadjas Beine, strich ihren Rock glatt und die Strickjacke über der Bluse. Sie richtete den Kragen ihrer Mutter, berührte dabei die weiche Haut am Hals, wie sie sie vielleicht zuletzt als Kind berührt hatte. Sie strich ihr das Haar aus der schon kühlen Stirn, zog ein Kissen vom Sofa und bettete Nadjas Kopf darauf. So saß sie lange unterhalb der Fensterbank in der Nähe der Toten, deren Haut heller zu werden schien, das Blut eher lilabraun als blaugrün in den Adern. Das Lichthinterm Fenster verschwand, und je dunkler es wurde, desto einfacher fiel Senta das Sprechen. Sie erzählte ihrer Mutter von dem Kind, das sie in sich trug, davon, daß sie für dieses neue Leben sorgen, ihm ein Zuhause geben wollte, wie sie es selbst, und Nadja, nie gehabt hatten. Kein geliehenes, vermeintliches. Keines, in dessen Keller man sich zu verstecken hatte, an dessen naßkalte Wände man sich preßte, längst schon in der Bereitschaft, einfach loszulassen, was sollte das noch hier. Nein, eines, das solide und unverrückbar war, Mauern, eine Burg. Das von der Eingangstür bis zum Dach uneinnehmbar war wie der Hochsicherheitstrakt einer Bank. Ein Haus, in dem Platz war für viele weitere Kinder, die in diesem Luxus aus Frieden und Überraschungslosigkeit aufwachsen konnten. Senta sah die immerzu dunkel umrandeten Augen ihrer Mutter, von der Müdigkeit befreit und friedlich geschlossen, seit sie sich auf keine Bühne mehr sehnten, an keinen anderen Ort, in keinem tieftraurigen Lied sich mehr verlieren konnten. Sie hielt ihrer Mutter die Hand, bis ihre Körperwärme in der Kälte verglomm. Es war vollständig dunkel. Und als sie das bemerkte, kam das Unheimliche zurück, das Schaudern, das die Nachtseite und ihre Übergröße auslöst, und Senta faßte den Beschluß, daß etwas zu tun war: Sie ging in die Küche, den Essig, und ins Bad, das Kölnisch Wasser suchen. Auf dem Weg schaltete sie alle Lichter und Lampen an, die es in der Wohnung gab, und entledigte sich des viel zu milde lächelnden Stalins. Sie zerriß ihn in vier Teile und spülte ihn in der Toilette hinunter.
Als Anton am Abend nach Hause kam, hatte Senta ihre Mutter auf dem dünngelaufenen Teppich in der Mitte des Zimmers gewaschen und eingerieben, ihr aus Handtüchern und einem Stück wasserundurchlässigem Stoff eine Windel gefertigt, denn sie hatte sich daran erinnert, daß Menschen auch noch Blase und Darm entleeren konnten, wenn sie tot waren. Sie hatte Nadjas Fingernägel gesäubert, ihr die Haaregebürstet und gelegt, das Kinn nicht unansehnlich hochgebunden, sondern ein Knäuel aus Stoff so plaziert, daß es das plötzliche Aufklappen des Kiefers unmöglich machte. Sie hatte dieses Knäuel geschickt mit einem Halstuch kaschiert und im Kragenausschnitt von Nadjas bester Seidenbluse versteckt, ihr eines ihrer wollenen 30er-Jahre-Kostüme über den viel zu schnell sich versteifenden Körper gezogen, dunkle Strümpfe und hohe Schuhe, die sie mit aller Kraft über die ausgeprägten Schiefzehen-Beulen an den Fußknöcheln gestülpt hatte. Sie hatte über der schweren Arbeit, die das war, immer wieder
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