Das Glück der Zikaden
daß sie fast augenblicklich die Wünsche und Bedürfnisse anderer befriedigte, das Recht auf ein Leben in Gemeinsamkeit. Sie war nicht einsam. Sie machte alles für alle anderen. Und irgendwie, wie nebenbei, schaffte sie es, daraus eine Haltung zu entwickeln, die auf Senta bedrohlich wirkte. Des Lydchens Demut war echt. Ihr Jesus Christus, wie sie ihn nannte, half ihr dabei. Ohne Zweifel schien sie eine Würde aus dem Verzicht zu ziehen, der ihr Leben war. Was ihr Michaels stille Bewunderung sicherte und Sentas irritierte Abneigung. Lydia wußte für sich, daß sie im Jenseits belohnt werden würde. So gab sie ihre Erfahrung himmlischer Liebe in Form von Essen weiter, das sie in aufwendigen, konzentrierten Prozeduren für die Familie zubereitete. Sie sagte jeden Morgen, wenn sie in ihrer kleinen Kammer hinter der Küche aufstand, den Blick zum Kruzifix: »Ihr Leiden tut mir leid.« Wenn Senta das hörte, weil sie gerade für die Kinder die Milch aufwärmte, dann konnte sie sich an Tagen, an denen sie zerfasert und fahrig war ob einer durch Kinderkrankheit oder schlechte Träume zerrütteten Nacht, manchmal nicht beherrschen und sprach leise mit der Milch, der sich darauf bildenden Haut und sagte, in Lydchens Tonfall: »Oh, mir tut alles so leid.«
Senta hatte ein Auge auf die Liebesbekundungen der Kinder an das Lydchen. Obwohl sie jede Schramme genauso hingebungsvoll pflasterte wie die Haushälterin, den Kindern immer die gewünschten Nachmittagskuchen backte, überhaupt jedes Lieblingsessen zubereitete und somit nicht die Küche räumte, wie Michael es sich gewünscht hatte; obwohl sie ausführlich Tränen trocknete, Spielwünsche erfüllte, in umfassender Hinsicht eine ihre Kinder umsorgende Mutter war, forderten die Kinder am Abend, daß Lydchen sie zuBett bringen sollte, und Senta ließ es nur geschehen, weil sie abends zu kraftlos, willenlos und aufgebraucht war, um noch zu protestieren. Das Lydchen ging ins Kinderzimmer und machte wohl nicht viel mehr, als einen Segen zur Nacht zu erbitten. Senta hörte, wie sie flüsterte, zitierte, sprach, am Ende ein »Jesus, unser Helfer, liebender Herr, komm zu uns in der Nacht, halt Wacht, Du liebst uns, wie wir Dich lieben, wir sind Dein«, und manchmal hörte sie, wie eines der Kinder fragte, wer Jesus genau sei, woraufhin das Lydchen leise eine um die andere Geschichte ihres Heilands erzählte. Senta war abgestoßen von der Frömmigkeit, in der vor allem diese Demut ruhte, der Glaube, ein anderer richte es schon für einen. Sie fragte nachts, als Michael aus der Kanzlei nach Hause kam und zu ihr ins Ehebett kroch, ob er diesen Glauben in Ordnung fände, ob es sein müsse, daß ihren Kindern was von Jesus Christus erzählt würde. Er sagte nur: »Du kannst ihnen auch die Tagesnachrichten vorlesen, wenn du das für erbaulicher hältst.«
Die Aufregungen draußen – Tunnel, die von Ost nach West gegraben wurden, Spione, die man austauschte, die Weltvernichtung durch die Supermächte –, diese Bedrohungsszenarien waren seit ihrem Umzug ins abgeschiedene Zehlendorf ihrer Dringlichkeit beraubt worden, was Senta mehr als schätzte. Sie glaubte es. Sie glaubte, daß vieles besser geworden war, weniger bedrohlich, abgründig, beängstigend. »Ich frage mich nur, ob das Lydchen die Richtige ist, um die Kinder zu erziehen, sie ist so parteiisch .«
»Ist das wichtig?«, fragte Michael und legte seinen Arm von hinten um ihren Oberkörper, zog sie zu sich. »Ein bißchen Kulturgeschichte tut ihnen schon gut.« Sentas Rücken berührte seinen Bauch, sein Kinn schmiegte sich in ihren Nacken. Es versetzte ihr einen Stich, daß er so etwas sagte. Als wäre ihre Erziehung eine, die keine Kultur enthielt. Sie spürte seine Erregung, sie wollte sich abwenden, protestieren,aber zählte nur instinktiv die Tage seit ihrer letzten Periode. Sie rollte sich ein unmerkliches Stückchen mehr ein. »Du hast Recht«, sagte sie leise, »wie immer. Was soll’s.«
Nachdem sie Malte im Alter von einem Jahr abstillte und ein angenehm trockener Sommer kam, in dem sich jeder Tag in einen immergleichen Ablauf zu fügen schien, da beschloß Senta das erste Mal in ihrer Ehe, etwas zu machen, ohne Michael um Erlaubnis gefragt zu haben. Sie nahm Malte auf dem Arm, bat Katarina ihr zu folgen, hatte ein Ohr bei Martin, Markus und Michi Junior im Kinderzimmer und ging vom hintersten Abstellraum im Keller bis unters Dach Etage für Etage durchs Haus. Katjuscha, die schon schreiben konnte, notierte
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