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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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hatten sich längst in Luft aufgelöst.
    »Kann ja mal passieren«, sagte Senta in die eisbonbonkühle Ansagerstimme, und Katarina hörte, wie Senta den Lautstärkeregler ihres treuen Freundes neu justierte.
    Eine nicht gekannte Wut schwappte durch Katarinas Körper, sie preßte die Hände auf ihre Oberschenkel. Sie blickte auf das Schwarz der Spalten zwischen zwei Tasten, dann zum aufrecht stehenden Notenbrett, dem Schnörkelgitterfenster. Sie sagte sich die Reihen des chemischen Periodensystems auf, die verläßlichen Ordnungszahlen, Buchstaben mitsamt Farben, die für die tafelgroße Übersicht gewählt worden waren, und gewann den Eindruck, daß die Noten, die andere spielten und die aus dem Braungerät kamen, nichts wesentlich Komplizierteres sein konnten. Und während sie darüber nachdachte, mischten sich in ihre Zweifel und in das Zögern all die Melodien, die sie in den langen Monaten von Sentas Radiozeit mitgehört hatte. Sie schloß die Augen, hörte überlaut ihren eigenen Atem in der Nase, wie weit ihr Brustkorb sein konnte, wie flimmernd das Schwarz vor den Augen, wie ungewohnt es sich anfühlte zu lächeln, und begann, sehr langsam und sehr suchend, eine der vierundzwanzig Chopin-Préludes zu spielen, die sie am frühen Morgen an Sentas Radio mitgehört hatte.

M ichael mochte es, vom Auto aus sein Haus zu betrachten. Es stand so sicher und beharrlich da, es bot keine Überraschungen, es war einfach ein gutes, solides Haus, und darin lebte seine Familie, die an sich dafür sorgte, daß er die Überzeugung gewinnen konnte, ein sinnvolles Leben zu führen.
    Er sah den geordneten Inhalt seines Kofferraumes vor sich, Aktenkoffer, Erste-Hilfe-Kasten, Warndreieck, dann die aufgeräumte Rückbank, die sauberen Fußmatten, das glatte Leder der Sitze, und wünschte, er könnte im sicheren Raum seines Wagens sitzen bleiben, die Hände am Lenkrad, die Füße auf Kupplung und Bremse. Denn er wußte, er hatte etwas Unwiederbringliches verloren.
    Er sah Senta vor sich, wie sie reihum alle fünf Kinder mit Essen versorgte, er hörte das pausenlose Durcheinandergerede, all die hohen Kinderstimmen, die er so liebte und die Senta so stumm hatten werden lassen. Am Kopfende saß seine Tochter, manchmal erinnerte sie ihn an eine Außerirdische, die soeben auf der Erde gelandet war, eine Fee oder so etwas, ein Wesen aus einer anderen Welt. Sie schwieg, wie ihre Mutter schwieg, sie schien ihr eigenes Universum zu haben, ein Universum aus Musik und Tönen, in dem sie kreiste. Gestern hatte er sich über den Tisch gelehnt und sie unterm Kinn gekrault, eine scherzhafte Geste, eine kleine Annäherung, um sie aus ihren Träumen zu reißen, da hatte sie ihn angestarrt und war aufgestanden, als hätte er ihr eineOhrfeige gegeben. Die Jungs hatten das gar nicht mitbekommen, er hatte gehofft, daß auch Senta es nicht bemerkt hatte. Sie war, wenn er es richtig wahrgenommen hatte, zu sehr mit dem Füttern von Malte und Michi beschäftigt gewesen.
    Sein Haus stand immer noch aufrecht und überraschungslos vor ihm, er konnte hineingehen, es würde nichts passieren. Die Erinnerung bliebe draußen, das sagte er sich. Wenn es sie nicht gäbe, dachte er, diese beschissene Erinnerung, dann gäbe es gar nichts und damit eine Rückkehr zu einem Gefühl vollkommener Unbelastetheit. Das wollte er wiederhaben. Es mußte möglich sein. Kein Makel der Lüge, des Verrats. Es war nichts passiert. Das Mädchen hatte einen so wahrhaft belanglosen Namen. Auch das sprach fürs Vergessen. Sabine. Sabine Meier. Und ihr nordisches, ein wenig schwedisches Gesicht, wie Michael immer gefunden hatte, umrahmt von dem feinen, haselnußbraunen Haar. Eine Frau wie eine frische Brise an der Küste, mit Ende Dreißig noch mädchenhaft wie ein Mädchen, wie seine Tochter, die jedoch in ihrer verschlossenen, abwesenden Art viel erwachsener wirkte. Und dann hatte er Sabine Meier beim Verhandeln erlebt, bei ihrer geduldigen Diplomatie beobachtet, ihren analytischen Schlüssen, ihrer Spitzfindigkeit, die nie besserwisserisch oder eitel war.
    Er wollte nicht an diese Frau denken. An ihre vibrierende Intelligenz, wie sie es scheinbar mit Leichtigkeit schaffte, durch noch so schwierige Verhandlungen zu kommen, als besitze sie einen Autopiloten, der sie führe. In keiner Sekunde schien sie verbissen kämpfen zu müssen. Bei aller Härte, Unbedingtheit und Strenge, trug sie, über die Moden hinweg, hohe Schuhe, enganliegende Kostüme, ihre schmalen Fesseln in glänzenden

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