Das Glück der Zikaden
der Welt funktionierte, selbst unter Michaels wachsamem Blick, selbst in diesem hellgrünen Krankenzimmer mit der Lebensrettungssteckdosenleiste über dem Kopf, dem Hängegalgen, dem Pillenfach im Nirosta-Nachttisch, über dem gewienerten, bakterienfreien PVC – Boden und neben dem fahrbaren Diener, der schon einen Beutel Flüssignahrung für alle Notfälle bereithielt. Sie war Mutter geworden, und damit stellte sich eine lange Zeit nicht mehr die Frage nach einem eigenen, selbstbestimmten Leben. Ihre Anwesenheit war nur dann konkret gefordert, wenn Katjuscha trinken wollte. Währenddessen schon, spätestens danach, schliefen beide wieder ein, dämmerten, träumten, atmeten gemeinsam. Senta hatte noch in dem Augenblick, da sie selbst in der dunklen Kammer von der Liege gerutscht war und den Kopf ihres Kindes gehalten hatte, beschlossen, daß genau das hier, das Gebären und das Muttersein, die Berufung ihres Lebens war.
S ie zogen von der kleinen Neubauwohnung in Tiergartennähe in eine sechszimmrige Altbauwohnung in Wilmersdorf, und schließlich, als das fünfte Kind kam – wie alle drei zuvor wieder ein Junge, der nach Martin, Markus und Michael Junior auf den Namen Malte hörte –, in ein prächtiges, aber baufälliges Haus in der Nähe vom Schlachtensee. Als Senta neben Michael stand und er den Kaufvertrag unterschrieb, durchfuhr sie ein Zittern, ein fast fiebriges Heißundkalt, von dem sie sicher war, daß es etwas mit ihrer Vorfreude, einen Ort zu haben, an dem sie sich mit ihren Kindern ausbreiten konnte, zu tun haben mußte.
Über den Vorbesitzer war nichts Genaues in Erfahrung zu bringen, außer daß er überraschend nach Santiago de Chile ausgewandert war. Ob, um den Sozialismus im Untergrund zu stärken oder seine Freundschaft zum Diktator zu pflegen, das ließ sich nicht klären. Senta brachte, wie Michael auch, kein Interesse für ideologische Details dieser Art auf, sie übernahmen die reich verzierten Gründerzeitmöbel, Anrichten, die an Altäre erinnerten, hochlehnige, kerzengerade Stühle, die Katjuscha, Martin und Michael Junior zu Waggons umfunktionierten, um einen langen Zug durchs Wohnzimmer zu haben, goldschimmernde Blumentapeten und das Labyrinth aus Gängen im ersten Stock. Dort gab es die drei toten Türen, wie Michael sie nannte, die sich zwar öffnen ließen, jedoch ragten dahinter eilig zugemauerte Wändeauf, vor denen sich die Kinder ähnlich gruselten wie vor den schneeweißen Dracula-Gebissen aus Plastik, die Michael am Tag der Vertragsunterzeichnung mitbrachte und die alle fünf fortan nur noch zum Essen aus dem Mund nahmen. Senta hatte noch bei der Begehung zu Michael gesagt, daß sie als allererstes diesen steinernen Kasten in der Mitte des Hauses öffnen werde, woraufhin Michael scherzhaft angemerkt hatte, daß das Ding doch durchaus Ähnlichkeit mit ihrem beschaulichen, eingeschlossenen West-Berlin habe, wo an einfache Öffnungen nicht zu denken war. »Ich will das nicht haben«, hatte Senta mit ungewöhnlich strengem Tonfall erwidert, der Michael aufgefallen war, weil sie so sonst nur mit den Kindern sprach.
Der Garten um das Eckhaus war eine Hügellandschaft aus immergrünen Gewächsen, zumeist formierten Buscheiben, die von dem Vorbesitzer des Hauses täglich mit dem Handfeger abgestaubt worden waren. Diese Aussage ging auf die langjährige Haushälterin Lydia Brehdcke zurück, die selbst überrascht worden war von der eiligen Abreise ihres Arbeitgebers und die Michael – ohne nur eine Sekunde darüber nachzudenken – in Festanstellung übernahm.
Lydia war als uneheliches Kind auf die Welt gekommen in einer Zeit, in der uneheliche Kinder so gut wie nie christlich getauft wurden. Der Name ihres Vaters wurde zwar in ihre Geburtsurkunde eingetragen, aber kurz darauf schnitt die Mutter mit einer ihrer Schneiderscheren diesen Eintrag heraus. Lydchen, nannten die Kinder sie. Senta hatte Michael überreden wollen, das Geld für die Festanstellung zu sparen, sie könne das Haus auch alleine führen. Michael erwähnte die außerordentlichen Kochkünste von Frau Lydchen, wie er sie anredete, und blieb auch bei wiederholten Gesprächen, in denen Senta anführte, daß sie eine Putzfrau und jemanden für die Wäsche auch einmal in der Woche kommen lassen könnten, beharrlich und unumstimmbar. Es versetzte Sentaeinen Stich, ohne daß sie den wahren Grund dafür hätte erkennen können. Es schien, als erarbeite sich das Lydchen, wie Senta sie nannte, durch ihr Dienen und dadurch,
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