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Das Glück der Zikaden

Das Glück der Zikaden

Titel: Das Glück der Zikaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Larissa Boehning , Pößneck GGP Media GmbH
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brauchte, einen Brief zur Post zu bringen, eine Rechnung in der Bank anzuweisen. Manchmal vergaß sie vor dem Eingang eines Geschäfts, was sie zu kaufen geplant hatte, und ging mit leeren Händen wieder nach Hause, wobei es ihr beim Betreten ihrer eigenen Küche wieder einfiel und sie auf dem Absatz, ohne Ärger über die verlorene Zeit, umkehren konnte. Sie konnte einen Vormittag darüber verstreichen lassen, neben dem Radio im Wohnzimmer zu sitzen und Musik zu hören. Die Musik war der Raum, der ihr die Ruhe gab, einfach sitzen zu bleiben. Wenn sie Musik hörte, war sie nicht allein. Dort irgendwo war ihre Mutter bei ihr. Sie war da, wo Musik war, und wenn das Klavier warm und weich aus dem Radio bis zu ihr in das stille, kastengerade Wohnzimmer kam, war Nadja mehr als gegenwärtig. Vielleicht trafen sie sich dort, in der Mitte, irgendwo. Wo Senta auch Gregor traf. Ohne noch einen pragmatischen Sinn für die Zeit, die schnöden Anforderungen der Gegenwart zu haben, hatte sie ihre Hände auf dem Bauch liegen, fühlte seine feste Rundung, das Wachstum, und vergaß, zum Arzt zu gehen, sich das Blut abnehmen oder Schlafmittel verschreiben zu lassen. Sie war, ohne eine Bestätigung durch modernste Technologien, zu der Erkenntnis gekommen, daß das Kind, das in ihr heranwuchs,ein Mädchen war. Auch wollte sie keinen Handleser, Kartenleger oder eine Dame mit Pendel dafür engagieren. Sie begann, ohne ein Wort auszusprechen, mit dem Kind in ihrem Bauch zu reden, sie gab ihm keinen Namen, dafür war sie zu abergläubisch, und ab dem siebten Monat nahm sie vorsorglich alle Bilderrahmen und Spiegel von den Haken, damit keiner zerspringen, herunterfallen oder sonst ein böses Omen verbreiten konnte.
    Sie übertrug ihr Kind volle zwei Wochen, bis ihr die Ärzte mit einem Kaiserschnitt drohten. So reduzierte sie die achteinhalb Wochen auf sechs, die ihr Kind älter als ihre Trauung war. In der Nacht, als die Fruchtblase sich mit einem Geräusch, als hätte jemand ein Stofftaschentuch in ihrem Inneren entzweigerissen, öffnete, in der Nacht hatte sie im Traum in das Gesicht ihres Mädchens geschaut und ausschließlich Gregor darin gesehen. In kurzen, wachen Augenblicken verfolgte sie die Angst, was Michael beim Anblick seiner Tochter sagen würde. Dann überrumpelte sie die Wucht der Geburt.
    Man hatte sie in eine Kammer geschoben, einen stramm gespannten Gurt um den Bauch, daran das Gerät, das die Herztöne aufzeichnete. Sie lag im Halbdämmer zusammen mit dem Kratzen der Nadel auf Papier, krakelige Kurven, die ihr zeigten, daß das Kind in ihrem Bauch am Leben war, ein Piepen für jeden Herzschlag. Wehen schienen ein Meer aus kochend heißem Wasser, das auf und ab durch ihren Körper floß. Der Gurt darin ein Spanngürtel, den sie zum Schwimmen nicht brauchte. Durch ihren hormongetränkten Nebel hindurch wußte sie, daß sie nicht mehr allein unter einem Baum auf der bloßen Erde sitzen und gebären mußte. Wie gut. Aber leichter wollte man es ihr auch nicht machen. Es schien eine Prüfung zu sein: Geburt in der Klinik überstanden, im gebärfeindlichen Raumschiff, in kühlen, unwirtlichen Kammern. Dirigiert von Männern in Laborkitteln, zwischen futuristischen Geräten. Schwangerschaft – eine Krankheit, die in Quarantäne auskuriert werden mußte. Die Götter in Weiß waren die, die entschieden, welches Kind es schaffte und welches nicht. Ihres sollte es nicht schaffen, so wie es aussah, denn das Kratzen des Geräts brach ab, eine flache Linie, kein Herzton mehr, keine Nachricht aus der anderen Welt. Senta brauchte lange, bis sie verstand, daß sie besser nicht auf das Nichts zu horchen hatte, sondern ihre Stimme erheben sollte. Sie rief leise, sie räusperte sich und rief etwas lauter. Niemand öffnete die Tür. Das kochend heiße Wasser spülte Welle für Welle durch sie hindurch, sie hörte auf zu rufen, denn lieber sprach sie still mit ihrem Kind, fragte es, warum es nicht antwortete, spürte, wie es ohne einen Mucks zu machen, ohne einen Herzschlag zu haben, kraftvoll nach draußen drängte, es war, als gäbe es da was, das ein Meer teilen konnte, die Nadel auf dem Millimeterpapier stand vollständig still, und sie richtete sich auf, hielt sich mit beiden Händen an dem Kunstleder der Liege fest, robbte an sein Ende, angelte mit den Füßen nach dem Fußboden, während die letzten heißen Wellen durch sie hindurchliefen. Mit einem Mal war sie so gegenwärtig wie seit Monaten nicht mehr, denn sie griff mit einer Hand

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