Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
ins Dachgeschoss zu tragen. Er setzte mich auf die Couch und holte den Rollstuhl. Der Flur war viel zu schmal, und genau betrachtet bestand unsere Wohnung aus Türschwellen. Das war mir nie zuvor aufgefallen. Ich hatte mir auch noch nie Gedanken darüber gemacht, dass sich Linoleum und Rollstuhlräder nicht vertragen – der Boden klebt an den Rädern fest. Wenn ich etwas aus meinem Kleiderschrank holen wollte, musste ich Andi bitten. Keine Tasse konnte ich aus dem für mich unerreichbaren Schrank nehmen.
Trotzdem war es sehr, sehr schön, wieder daheim zu sein. Wir waren beide überglücklich und kamen nicht mal dazu, meine Tasche auszupacken. Wir hatten noch genauso viel Lust aufeinander wie früher, auch wenn ich meine Beine nicht bewegen konnte. Ich hätte weinen können vor Freude, als ich mir sicher war, dass ich meine Sensibilität bewahrt hatte.
Schon seltsam: Ich verspüre keine Schmerzen in den Beinen, nehme aber sanfte Berührungen wahr – allerdings gedämpft. Ich merke es, wenn ich mit den Beinen irgendwo anstoße – ein Gottesgeschenk! Auch wenn die Empfindung nicht so ist wie vor der Lähmung, sie ist da, und das ist mir wichtiger, als laufen zu können. Schmerzen habe ich nicht, wenn ich mich stoße. Doch ich bekomme schnell blaue Flecken. So wie meine Beine sich früher im Sommer durch knallrote Knie hervortaten, tun sie es heute ganzjährig mit blauen Flecken.
An der rechten Hüfte habe ich eine Stelle, wo ich gar nichts spüre. Sie ist absolut taub. Wenn mir bewusst wird, dass diese Taubheit überall hätte sein können, von der Brust abwärts … dann breitet sich eine tiefe Dankbarkeit in mir aus.
In dem Bereich um meinen Brustkorb herum, wo in der ersten Zeit dieser festgeschnürte Gürtel saß, spüre ich manchmal einen stechenden Schmerz auf der Höhe der letzten Rippe. Lange Zeit konnte ich mir darauf keinen Reim machen, bis ich eines Tages beim Duschen mit dem Fuß am Badewannenrand hängenblieb. Ich empfand keinen Schmerz, auch nicht, als der Fuß blau wurde, doch plötzlich fuhr mir ein Messer zwischen die Rippen. Da begriff ich, dass dieser Schmerz in dem sogenannten Übergangsbereich gelegentlich auftaucht, wenn ich mich verletze, ohne es zu merken. Ab diesem Moment waren mir die Messerattacken ein wertvoller Hinweis. Seither forsche ich nach, was mir passiert sein könnte, wenn es sticht.
Abgesehen von diesen Schmerzen im Übergangsbereich habe ich zum Glück keine – außer manchmal Rückenschmerzen im oberen Bereich, wenn ich meinen Rücken zu sehr belaste, falsch sitze oder liege. Da meine Rückenmuskulatur enorm arbeiten muss, weil mir die vorderen Haltemuskeln fehlen, ist sie auch anfällig, aber leider bleibt das Training für mich bis heute meistens ein Vorsatz. Durch meine eher schiefe als gerade Lähmung gerate ich auch leicht in eine seitliche Schieflage und muss mich zusätzlich anstrengen, mich gerade zu halten, nicht bloß aufrecht.
Als Fußgänger stellt man sich das Leben im Rollstuhl schrecklich vor, weil man dann nicht mehr laufen kann. Es ist aber nicht das Laufen, es sind ganz andere Dinge, die Probleme machen, wie ich nun nach und nach feststellte.
Als ich mit Jasmin im Krankenhaus lag, war der vom Hals abwärts gelähmte und mittlerweile verstorbene Schauspieler Christopher Reeve oft in den Medien. Er sprach stets davon, eines Tages wieder laufen zu können, obwohl er sogar beatmet werden musste. Jasmin regte sich über ihn auf: »Der soll doch erst mal wieder atmen lernen!«
Sie erfuhr am eigenen Leib, dass die Schritte in eine neue Normalität winzig klein sind – und die Freude über jeden weiteren Millimeter Selbständigkeit riesengroß ist. So war es bei mir, als ich das Katheterisieren lernte, und später, als ich merkte, dass ich wahrnehmen kann, wann ich zur Toilette muss: ein vages Gefühl in der Blasengegend, das mir sagt, dass ich mich beeilen sollte. Viele Rollstuhlfahrer spüren so etwas nicht und katheterisieren nach Uhrzeit und Trinkmenge.
Als Andi mich am Sonntagabend zurück ins Krankenhaus brachte, lag eine neue Patientin bei Jasmin und mir. Lara war schon älter, ungefähr 25, und beim Wandern von einem Felsvorsprung ein paar Meter in die Tiefe gestürzt. Sie kam überhaupt nicht mit ihrem Schicksal zurecht, einer Lähmung ab der Lendenwirbelsäule. Tausendmal am Tag fragte sie Jasmin und mich, warum ihr so etwas passieren musste. Ihr Bett war zu hart oder zu weich, das Essen schmeckte nicht, und das Wetter war viel zu schön,
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