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Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)

Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)

Titel: Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Kiefer
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um es im Krankenhaus zu verbringen. Auch ihr hatte der Arzt Hoffnung gemacht, dass in den ersten drei Monaten die Lähmung weichen könnte. Es tat sich aber nichts bei ihr, und das erzählte sie uns ständig.
    Dann auf einmal konnte sie die Zehen an einem Fuß bewegen. Schließlich das ganze Bein. Sie brachte es dennoch fertig, Jasmin die Ohren vollzuheulen, dass sie nur ein Bein bewegen könne und wie sie damit leben solle. Ich fand das taktlos und unsensibel. Jasmin war dabei, sich damit abzufinden, ihre Finger nie mehr bewegen zu können – das bedeutete, dass sie für alles Hilfe brauchte: aus der Traum vom selbständigen Leben. Lara verließ das Krankenhaus später auf ihren eigenen Beinen – bis dahin jammerte sie uns rund um die Uhr vor, wie schlecht es ihr gehe.
    Irgendjemand hat mir mal von einer Studie erzählt, bei der herausgefunden wurde, dass Menschen ihre Einstellung zum Leben nach einem schweren Schicksalsschlag nicht ändern. Wenn jemand gut drauf ist, wird er auch nach einer Lähmung – sobald er den Schock überwunden hat – wieder gut drauf sein. Und wenn jemand nicht gut drauf ist, wird ihn eine Lähmung kaum fröhlicher stimmen. Insofern bin ich mit den besten Voraussetzungen gestartet, denn ich war als Fußgängerin meistens gut gelaunt, und als ich von meinem neuen Leben auf Rädern völlig Besitz ergriff, ging es erst richtig los.
    Laras Jammerei stieß mich so ab, dass ich selbst nie wieder jammerte, vor allem nicht in Gegenwart von Jasmin, die sich niemals beschwerte, obwohl sie es am schlimmsten von allen getroffen hatte. Jasmin war glücklich, weil sie so große Fortschritte gemacht hatte. Als sie nach Bayreuth kam, war sie ab dem Hals gelähmt und konnte weder Schultern noch Arme bewegen. Nach und nach war ihre Beweglichkeit bis in die Hände zurückgekehrt.
    Seit ich Jasmin kenne, habe ich ein ganz anderes Verhältnis zu meinen Fingern. Was die alles können. Wie die mir helfen. Ich brauche sie ständig. Finger sind kleine große Wunderwerke! Was für ein Glück, sie bewegen zu können! Und was für ein Glück, dass ich nur gelähmt war. Viele andere Patienten mit Lähmungen hatten schwere Unfälle hinter sich und litten an Knochenbrüchen, Verbrennungen, Organverletzungen … Nein, ich hatte überhaupt keinen Grund, mich zu beschweren. Bei wem auch?

    Jasmin hatte sehr viel Besuch. Ihre Mutter kam jeden Tag und brachte gute Laune mit. Ich machte mir damals keine Gedanken darüber, wie sie das schaffte – schließlich lag ihre Tochter gelähmt im Bett. Heute denke ich, dass sie sich großartig verhielt. Sie munterte uns auf. Oft brachte sie Pizza mit oder Riesentüten von McDonald’s und spürte feinfühlig, wann wir lieber unter uns bleiben wollten: »Ich geh dann mal!«
    Ihr fröhliches Lachen klingt mir heute noch in den Ohren. Von den Ärzten ließ sie sich nichts aufschwatzen. Sie sorgte umsichtig für ihre minderjährige Tochter. So lehnte sie beispielsweise die Tropfen ab, die Jasmins Verdauung regeln sollten.
    »Das braucht meine Tochter nicht. Das spielt sich ein. Die Tropfen lassen wir weg.«
    »Aber wenn sie dann …«, begann ein Arzt.
    Jasmins Mutter unterbrach ihn resolut: »Der Darm benötigt Zeit, um seinen eigenen Rhythmus zu finden, und wie soll meine Tochter damit zurechtkommen, wenn sie nie die Gelegenheit erhält, ihrem Körper die Chance zu geben, das in seinem Rhythmus zu regeln.«
    Sie hatte natürlich recht, und Jasmin kam wunderbar ohne Tropfen klar. Daran dachte ich später, als ich die Tabletten vergaß, die ich täglich nehmen sollte, um meine Blase zu kontrollieren.
    Jasmins Freund verließ sie, als er von ihrem Unfall erfuhr, den sie im Urlaub mit ihren Eltern hatte. Er besuchte sie kein einziges Mal im Krankenhaus. Das war bitter. Dafür kam Flo ständig vorbei, mit dem sie locker befreundet war. Ein Blinder hätte gesehen, dass Flo weit über beide Ohren in Jasmin verliebt war. Jasmin wollte davon nichts wissen. Und als Flo ihr eines Tages seine Gefühle gestand, sagte sie: »Guck mich an. Was willst du von mir? Ich bin gelähmt!«
    »Ich will nur dich«, erwiderte Flo schlicht.
    Und so blieb es. Neun glückliche Jahre später heirateten die beiden, obwohl Jasmin ihre Finger nie wieder bewegen konnte und bis heute rund um die Uhr Hilfe für ihren Alltag braucht – was sie nicht davon abhält, meistens gut gelaunt zu sein.
    Flo brachte oft Kumpel mit ins Krankenhaus. Dann gesellte sich auch Stöpsel zu uns, der Zivi der Station. Stöpsel

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