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Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)

Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)

Titel: Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Kiefer
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verspüre, weil untenrum alles taub sei.
    Seit ich bei der Post arbeitete, kam die Krankengymnastin nicht mehr zu mir ans Bett. Ich erhielt einen Stundenplan mit Terminen zur stationären Reha. Ab sofort sollte ich fit gemacht werden, um mein neues Leben mit der Behinderung meistern zu können. Ich war überglücklich, dass die Zeit im Bett nun hinter mir lag und stürzte mich voller Tatendrang in das Training. Acht Uhr Krankengymnastik, neun Uhr schwimmen, zehn Uhr Computerraum, elf Uhr Krafttraining, Mittagspause, nachmittags wieder Krankengymnastik, dann Rollstuhltraining: Wie kommt man Bordsteinkanten rauf und runter? Und Treppen?
    Die erste und wichtigste Übung ist das sogenannte Übersetzen: vom Rollstuhl auf eine Sitzgelegenheit und wieder zurück. Sieht ganz leicht aus? Stimmt. In Wirklichkeit ist es Schwerstarbeit, solange man die Technik nicht beherrscht. Wer ab der Lendenwirbelsäule gelähmt ist, hat es leichter. Doch wer wie ich ab der Brustwirbelsäule gelähmt ist, kann sich auf keine Bauchmuskulatur verlassen. Auch der untere Rücken fällt aus – und das macht die Sache kniffelig. Ich war oft am Ende meiner Kräfte, wenn ich versuchte, den Körper aus dem Rollstuhl auf die Bank zu hieven – ohne Beinkraft, ohne Rücken- und Bauchmuskeln, allein mit den Armen. Dabei musste ich auch noch das Gleichgewicht halten, das ja nicht automatisch vorhanden ist, da sich bei mir mehr als die Hälfte des Stützapparates verabschiedet hat.
    Immer wieder unterrichtete meine geduldige Krankengymnastin Susanne den Weg vom Rollstuhl ins Bett: »Fahr schräg von rechts ans Bett. Deine Knie berühren die Matratze. Stütz dich mit der linken Hand auf der Matratze ab, mit der rechten hältst du dich am Rollstuhl fest. Super.«
    »Das weiß ich doch alles!«
    »Ja, aber wir gehen es noch mal durch. Irgendwann fällt der Groschen. Das ist so.«
    »Hoffentlich!«
    »Bestimmt! Du rutschst jetzt ein Stück in Richtung Bett und versetzt die Hand nach vorne, während du weiter vorrückst und deinen Po vom Rollstuhl aufs Bett schiebst. Deine Füße stehen noch auf der Ablage. Jetzt nimmst du dein linkes Bein, legst es aufs Bett, dann das rechte. Okay. Gut so. Das wird schon, Ines, das sieht schon viel besser aus.«
    »Ich weiß nicht«, seufzte ich.
    Im Endeffekt muss man es Millionen Mal machen, bis man den Dreh raus hat. So war es auch bei mir. Ich probierte es immer wieder, und es klappte nicht. Heulend rollte ich zurück in mein Zimmer, und wehe, jemand wollte von mir wissen, wann die letzte Briefkastenleerung sei. Ich war fix und fertig. Wegen der Anstrengung verlor ich einige Pfunde an Gewicht. Niemals in meinem Leben war ich so schlank gewesen. Und trotzdem kam ich mir vor wie ein zentnerschwerer Mehlsack. Wenn ich eine Krankenschwester bitten musste, mir vom Bett in den Rollstuhl oder zurück zu helfen, war das eine schmerzvolle Niederlage. Ich war zwanzig Jahre alt und wurde behandelt wie ein Säugling oder eine Greisin. Für mich als Mensch, der sehr großen Wert auf seine Unabhängigkeit legt, war das die Hölle. Ich hatte doch ohnehin so wenig Privatsphäre. Gerade mal den Platz zwischen dem Schrank, dem Nachtkästchen und meinem Bett. Und nicht mal hier kam ich zurecht.
    Eines Nachmittags saß ich heulend neben meinem Bett. Meine Arme zitterten, so lange versuchte ich schon überzusetzen. Ich hatte nicht bei den Schwestern geklingelt, ich wollte es schaffen. Doch ich hatte versagt, und jetzt konnte ich nicht mehr. Ich war völlig erschöpft, entkräftet. Da kam Jasmin hereingerollt und begriff die Situation sofort. Sie schob meinen Nachttisch beiseite und parkte neben mir. Dann umarmte sie mich. Unbeholfen. Nicht mal umarmen konnten wir uns. Irgendwie schaffte ich es, mich in ihrem Häkelpulli zu verheddern, und das Ganze endete schließlich in einem Lachkrampf. Von meiner Seite aus ein klein wenig hysterisch.

Survival Training
    Plötzlich hatte ich es kapiert. Es kommt nicht auf die Kraft an, sondern auf die Technik. Kraft braucht man nur selten im Leben. Auf einmal wusste ich, wo ich meine Hände plazieren musste, wie ich den Körper und die Schultern drehen sollte – und dann floss ich hin und her, leicht, fast anmutig und frei. Das war ein sehr glücklicher Augenblick, und ich probierte es immer wieder, weil ich kaum glauben konnte, dass ich es geschafft hatte. Von nun an ging es steil bergauf. Ich bin ja auch ehrgeizig. Wenn was nicht funktioniert, wie ich will, dann ärgert mich das. Deshalb wollte ich

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