Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
Kommunikation mit einer versunkenen Welt – und eine Warnung. Denn manchmal übertreibe ich es und fahre beispielsweise mit einer Packung Fischstäbchen aus der Tiefkühltruhe auf dem Schoß zu lange spazieren. Da fangen die Oberschenkelmuskeln zu krampfen an. Aha! Die frieren. Danke für den Hinweis! Einmal beim Malen kleckerte ich mir gedankenlos Ölfarbe auf die Hose und rieb dann mit großzügig Terpentin daran herum, ohne die Hose auszuziehen. Auch da bekam ich schnell eine Rückmeldung: »Willst du uns vergiften?« Nein, natürlich nicht. Entschuldigung und danke für den Tipp! Leider hatte ich mir die Haut bereits verätzt. Gespürt habe ich nichts davon.
Auf eine Art von Streckspastik könnte ich allerdings verzichten. Manchmal, wenn ich zur Toilette muss und die Hose runterschieben will, spannt sich meine Rückenmuskulatur an, und ich werde nach hinten gezogen. Dann muss ich mich ganz schnell irgendwo festhalten, sonst kippe ich weg.
Im Krankenhaus sah ich einmal einen jungen Mann im Rollstuhl, der so extreme Spastiken hatte, dass er festgeschnallt werden musste. Ich bin sehr froh, dass Spastiken bei mir dezent ausfallen. Eigentlich bemerke nur ich selbst sie. Insofern habe ich es wirklich gut getroffen mit meiner vorhandenen Sensibilität: kein Schmerz-, Hitze- und Kälteempfinden und doch die Gewissheit, dass sich mein Körper bei übermäßiger Belastung durch eine Spastik meldet.
Heute gehe ich jeder dieser Regungen nach und überlege: Ist irgendetwas Ungewöhnliches passiert? Wo könnte ich mich verletzt haben, ohne es zu merken?
Das Silvester zur Jahrtausendwende feierte ich mit meinen Nachbarn. Kurz nach Mitternacht rief Andi mich in einem sentimentalen Moment an, wie ich an seiner Stimme hörte. Ich erzählte ihm, wie gut es mir ging, und das kam anscheinend an. Andi sagte: »Wenn du vor ein paar Monaten genauso gute Laune gehabt hättest, wäre ich nie ausgezogen.«
Tief in mir spürte ich die Gewissheit: Wäre er bei mir geblieben, hätte ich diesen Grad an Selbständigkeit nicht erreicht. Alles war gut so, wie es gelaufen war. Ich schwamm wieder obenauf!
Hochzeit auf Rädern
M eine Mutter erzählte mir von einer Internetseite, die ihr eine Kollegin empfohlen hatte. Dort würden sich Rollstuhlfahrer und interessierte Fußgänger austauschen.
»Du hast doch vom Hotel einen Computer mit Internet gestellt bekommen«, meinte meine Mutter am Telefon, »guck da mal rein.«
Ich schaute noch am selben Abend auf www.startrampe.net und blieb hängen. Da wollte ich dabei sein. Natürlich nicht als Ines Korb. Welchen Namen würde ich meiner neuen Identität geben? Am nächsten Tag meldete ich mich an. Ab sofort surfte Rollmaus – wenn alle Pflichten erledigt waren – mit Begeisterung auf der Startrampe herum. Hier trafen sich nicht nur Rollstuhlfahrer, sondern auch Fußgänger, junge und alte, und bei den Rollstuhlfahrern die ganze Palette, wie man dazu werden kann: ob durch Unfall, Vererbung, Krankheit, schon immer gewesen oder einfach Pech gehabt. Auch Angehörige von Rollstuhlfahrern chatteten mit – und »Fans«. Ja, die gibt es, wie ich eines Tages erfuhr, als sich ein Gespräch im Chat darum drehte, ob jemand ein »Amelo« sei. Neugierig fragte ich nach: »Was ist das, ein Amelo?«
»So nennt man Leute, die sich als Sex- oder Lebenspartner einen Menschen mit körperlicher Behinderung wünschen.«
»Wie? Das gibt es?«, tippte ich fasziniert zurück. So was hatte ich noch nie gehört.
»Sehr oft sogar. Da ist beispielsweise ein Mann, der Frauen besonders anziehend findet, weil ihnen ein Arm oder ein Bein fehlt.«
»Das glaub ich nicht!«
»Ist aber so. Es gibt auch welche, die fahren besonders drauf ab, wenn der Partner oder die Partnerin im Rollstuhl sitzt.«
»Du machst Witze!«
»Nein, Tatsache. Das kommt sowohl bei Männern als auch bei Frauen vor. Bei Frauen dominieren hierbei vielleicht häufig mütterliche Gefühle und der Wunsch, jemanden zu umsorgen. Bei Männern steht die sexuelle Seite oft im Vordergrund. Also pass auf, Rollmaus (wenn du wirklich eine bist), dass du dich von Amelos fernhältst. Die tarnen sich natürlich und binden dir das nicht auf die Nase.«
Ich besprach den Fall Amelo mit Jasmin, Steffi und ein paar anderen Leuten.
»Jeder Mensch hat irgendwelche Vorlieben. Der eine steht auf Blondinen, die andere auf Bizeps«, meinte eine Bekannte von Steffi.
»Ja, aber die sind doch nicht behindert!«, widersprach ihr Freund und errötete sofort. »Also ich
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