Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
Deshalb ist es für Fußgänger unbequem, mich zu schieben. Nur Kinder müssen keinen Buckel machen, doch von denen würde ich mich nicht schieben lassen – außer von meinem Sohn Tim –, denn das will gelernt sein.
Eines Tages begleitete meine Nachbarin Jacqueline mich auf einem Spaziergang. Kurz bevor wir wieder nach Hause kamen, mussten wir eine Kreuzung überqueren.
»Ich schieb dich schnell rüber«, bot Jacqueline an, weil sie mir einen Gefallen tun wollte. Sie hatte sehr wohl mitbekommen, dass Stufen für eine Rollstuhlfahrerin eine andere Herausforderung bedeuten als für eine Fußgängerin. Der Bordstein war an dieser Stelle zwar abgesenkt, doch zwischen den Pflastersteinen sammelte sich Rollsplitt. Die kleinen Rädchen vorne am Rollstuhl sind in ihrer Wendigkeit sehr praktisch, doch für Kanten nicht unbedingt geeignet. Wenn ich selbst am Steuer sitze, habe ich das unter Kontrolle und kippe an. Jacqueline hatte es nicht unter Kontrolle, und ich war so in unser Gespräch vertieft, dass ich nicht aufpasste.
Schon fiel ich vornüber aus dem Rollstuhl, zuerst auf die Knie, fing mich geistesgegenwärtig mit den Händen ab, und lag auf der Fahrbahn. Zwanzig Zentimeter vor meinem Kopf donnerte ein Lkw vorbei. Jacqueline schrie erschrocken auf. Das Auto hinter dem Lkw legte eine filmreife Vollbremsung auf den Asphalt. Das dahinter auch. Es roch nach Gummi und Asbest. Jacqueline war kreideweiß. Das fand ich irgendwie lustig. Dann musste Jacqueline auch lachen, und im Schock lachten wir uns schepps. In diesem Zustand brachte sie mich natürlich nicht hoch. Es dauerte ziemlich lange, bis einer der Autofahrer begriff, dass er aktiv werden musste, wenn er jemals weiterfahren wollte, und mich in den Rollstuhl hob. Ich behandelte den Vorfall als Warnung. Ich musste besser aufpassen und durfte mich nicht so leichtfertig schieben lassen, ohne mich bewusst festzuhalten. Rollstuhlschieben ist Vertrauenssache!
Einmal kippte ich auch ohne Hilfe aus dem Rollstuhl – im eigenen Wohnzimmer in Weidenberg. Vielleicht hatte ich mich zu weit nach vorn gelehnt? Jedenfalls saß ich plötzlich auf dem Boden. Und jetzt? Zum Glück verfiel ich nicht in Panik und malte mir aus, wie lange es dauern würde, bis ich verfault gefunden würde. Ruhig überlegte ich, was ich unternehmen sollte. Um mich herum gab es einen Tisch, eine Couch und Stühle. Alles Gegenstände, an denen ich mich hochziehen konnte. Am niedrigsten war die Couch, also erkor ich sie zum Ziel und robbte in ihre Richtung, den Rollstuhl im Schlepptau. Was ganz einfach klingt, war überhaupt nicht einfach, doch ich schaffte es, mich hochzuziehen und auf den Bauch zu plumpsen, so dass ich schließlich die Beine nach oben hieven konnte. Ich ruhte mich aus, sammelte meine Kräfte und setzte mich zurück in den Rollstuhl. Diese Aktion dauerte zwar ziemlich lange, doch sie machte mich auch stolz. Wieder eine Extremsituation ohne Hilfe gemeistert!
Einmal in der Woche besuchte mich mein Krankengymnast Holger und bewegte meine Beine durch. Ich liebte diese Termine.
»Sag mal Ines«, fragte Holger mich eines Tages, »kann es sein, dass du an den Beinen eine Spastik entwickelst?«
»Was meinst du damit?«
»Mir fällt auf, dass das linke Bein zuckt, wenn ich den Fuß berühre.«
»Das kenne ich vom Hinlegen«, sagte ich. »Immer wenn ich mich lang mache, zittern meine Beine und der Bauch leicht. Es hört dann aber gleich wieder auf.«
»Das meine ich nicht. Irgendwie ist das heute anders. Schau mal, ich fasse deine Zehen an … und das Bein zittert.«
»Hm«, machte ich.
»Darf ich mal?«, fragte Holger und zog mir die Socke aus. Beide starrten wir auf einen dunkelblauen großen Zehn.
Holger stieß einen Pfiff aus: »Jetzt wird es aber interessant!«
»Ich bin gestern mit dem Fuß an der Couch hängengeblieben«, fiel mir ein.
»Und hast dir den Zehennagel abgerissen«, vollendete Holger meinen Satz und verzog das Gesicht, als hätte er grauenvolle Zahnschmerzen.
»Ja.«
»So was tut sauweh«, sagte er. »Anscheinend wissen deine Muskeln das. Ihr Zittern, als ich den Zeh versehentlich berührte, hat mir das verraten. Das bedeutet, du hast hier ein hervorragendes Messgerät für deine Befindlichkeit.«
»Du meinst, wenn ein Muskel zittert, soll ich klarstellen, dass ich mich nicht verletzt habe.«
»Genau so ist es. Auch wenn du es nicht spürst. Dein Körper spürt es trotzdem.«
Seit diesem Tag sind Spastiken für mich nichts Lästiges mehr, sondern eine
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