Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
freundete mich mit meinen Nachbarn an.
Jacqueline und Mike stammten aus Thüringen, waren ein wenig älter als ich und hatten einen süßen Sohn: den dreijährigen Jannik. Die junge Familie und besonders Jacqueline nahm mich ein wenig unter ihre Fittiche. Oft lud sie mich zum Essen ein. Beim ersten Mal sagte ich ab, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich in den zweiten Stock kommen sollte. Mike las meine Gedanken. »Kein Problem«, lachte er, fragte um Erlaubnis und trug mich nach oben. Diese herzliche Nachbarschaft versöhnte mich vollständig mit meinem schlechten Start in Weidenberg, und ich liebte es, auf den kleinen Jannik aufzupassen, wenn Mike und Jaqueline gelegentlich ausgingen.
Ich fühlte mich immer besser. Steffi und Stöpsel besuchten mich oft. Mit Stöpsel fuhr ich einmal mitten in der Nacht zu McDonald’s, und später bummelten wir durch die Fußgängerzone. In seinen Augen konnte ich lesen, dass er mich sehr gern hatte. Das Leben machte mir wieder Spaß. Ich genoss lange Spaziergänge mit Marcky – bis auf einen. Ich merkte es, als ich mich am Wendepunkt unserer Runde befand: Ich musste zur Toilette.
»Schnell, Marcky, heim!«, rief ich ihm zu. »Du musst nicht an jedem Grashalm dein Bein heben.«
Insgeheim beneidete ich ihn darum. Ich spürte, wie meine Blase ein wenig krampfte – und im nächsten Moment war es passiert. Zum Glück schwappte nicht alles auf einmal raus. Ich hätte mir in den Hintern beißen können, wenn ich gekonnt hätte, so genervt und frustriert war ich. In die Hose pinkeln! Mit 20!
»Marcky!«, rief ich ärgerlich.
Er legte den Kopf schräg und schaute mich fragend an. Wedelte vorsichtig.
»Ne, du kannst nichts dafür«, sagte ich. Er wedelte stärker. »Und eigentlich«, überlegte ich, »ist ja auch gar nichts Schlimmes passiert, oder?«
Marcky wedelte, als würde er gleich abheben wollen.
»Stell dir mal vor, Marcky, wir hätten keine Waschmaschine. Oder keine Rampe vor der Tür. Oder wir würden ganz woanders leben. In der Antarktis zum Beispiel.«
Er schüttelte sich.
»Eben«, sagte ich in der festen Überzeugung, dass mein Hund mich verstand wie sonst niemand.
In der Zeit nach der Trennung von Andi träumte ich sehr intensiv. Oft fuhr ich mit meinem Rollstuhl an eine steile Treppe, stand auf und lief die Stufen leichtfüßig nach oben. Das waren schöne Träume, die beim Aufwachen weh taten. Es gab auch Träume, in denen ich im Rollstuhl saß, aufstehen wollte und nicht konnte. Die taten doppelt weh. Und manchmal kam in meinen Träumen gar kein Rollstuhl vor, und ich tanzte die ganze Nacht. Das war zuerst wunderschön, aber später am traurigsten.
Im November besuchte ich meine Eltern in Freiberg. Es war die erste lange Autofahrt mit meinem umgebauten Honda, und ich war sehr stolz, als Marcky und ich heil ankamen. Irgendwie sprach es sich herum, dass Ines da war, und ich erhielt sehr viel Besuch. Auch Silvio, ein ehemaliger Klassenkamerad, schaute vorbei. Zur Schulzeit war er ein begeisterter Graffitisprayer gewesen. Mit meinen Eltern wohnte ich damals in einem Mietshaus, das der Stadt gehörte. Eines Tages wurde der hässliche Bau zur Freude der Mieter neu verputzt. Es dauerte nicht lange, dann war die Fassade neben der Haustür »getaggt«. So nennt man es, wenn ein Sprayer seine Signatur hinterlässt, um so sein Territorium abzustecken. Nun vertraute Silvio mir an, dass er das damals war.
»Bist du bekloppt?«, rief ich. »Ich habe mich total darüber geärgert! Die schöne neue Fassade.«
Silvio räusperte sich. »Ich war damals eben in dich verliebt …«
Ich riss die Augen auf: »Du?«
»Sag bloß, das hast du nicht gemerkt?«
»Wie denn! Wir waren doch Freunde!«
»Also für mich war es mehr – und da wollte ich dich mit dem Tagg irgendwie beeindrucken.«
»Nein, du hast dein Revier markiert. Wie Marcky!«, rief ich, und dann bekam ich einen solchen Lachanfall, dass meine Mutter neugierig im Wohnzimmer auftauchte.
Beim Abschied sagte Silvio: »Ich bewundere dich, Ines. Meine Freundin hat mich vor einem halben Jahr verlassen, und meine Welt liegt noch immer in Scherben. Du bist von Andi verlassen worden, sitzt im Rollstuhl und kannst schon wieder lachen.«
»War das vorhin vielleicht nicht komisch?«, fragte ich überrascht und musste schon wieder grinsen.
»Doch«, sagte Silvio mit Trauermiene.
Geheime Zeichen
Die Rückenlehne an meinem Rollstuhl und somit auch die Griffe sind tief angesetzt, um mir Rückenfreiheit zu ermöglichen.
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