DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
war unverkennbar. Zum ersten Mal fragte er sich, ob es richtig gewesen war, ihre Gutherzigkeit ein ganzes Jahr lang in Anspruch zu nehmen. Allein mit dem Bewohnen ihres Gästezimmers hatte er erreicht, dass sie sich mehr als je zuvor für ihn verantwortlich fühlte. Für sein Wohl und seine Fähigkeit, mit dem Leben fertigzuwerden. Einen Moment lang schämte er sich, ihre Fürsorglichkeit auf diese Weise ausgenutzt zu haben, auch wenn er damals eher gedankenlos ihrem Drängen, vorerst bei ihr zu wohnen, nachgegeben hatte.
"Es ist ein Versuch, Marie", sagte er schließlich. "Nicht mehr und nicht weniger."
"Wenn man die Fakten betrachtet, vielleicht."
"Ich betrachte auch nur die Fakten, glaub mir."
"Und was ist mit den Gefühlen, die diese Suche in dir wachrüttelt? Oder besser gesagt, die Gefühle, die diese Suche überhaupt erst in Gang gesetzt haben?"
"Ich kann damit umgehen", antwortete er und bemühte sich, so glaubhaft wie möglich zu klingen. Um Marie zu überzeugen. Vor allem aber sich selbst.
"Na ja." Sie lächelte. "Ich werde so tun, als würde ich dir glauben."
Die Falttür der Küche schob sich auf. Eine Kinderhand wedelte protestierend durch die Luft.
"Wo bleibst du denn, Onkel Simon?", schimpfte Rhea. "Wenn du nicht bald wiederkommst, versaut mir Timmy die ganze Dekoration."
"Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen", antwortete er und erhob sich vom Stuhl, während er im Augenwinkel Marie lächeln sah. Mit der Zeit, da war er sich sicher, würde sie ihn verstehen.
*
Zum mittlerweile dritten Mal tippte sie die Ziffern der elfstelligen Telefonnummer in ihr Handy, um sie gleich darauf wieder zu löschen. Sie wusste, dass sie die Nummer nicht wählen konnte, dass sie nicht in der Lage sein würde, dem Fremden eine Kurznachricht zu schreiben, geschweige denn bei ihm anzurufen; dennoch kam sie nicht dagegen an, die Annonce wieder und wieder zu lesen, um immer und immer wieder an der Angst zu scheitern, der Sache auf den Grund zu gehen.
Die Tür des Lagers öffnete sich. Ein Lichtstrahl drang herein, der die liebgewonnene Dunkelheit durchbrach.
"Ach, hier sind Sie", rief Herr Volkmann. Er schob eine Kiste in das unterste Regal und blieb mit verschränkten Armen wenige Meter neben Nita stehen.
"Ich wollte nur eben nachschauen, ob wir noch Restexemplare der Rückert-Anthologie dahaben", log sie und ließ die Annonce unauffällig in ihrer Hosentasche verschwinden.
"Ich kenne niemanden außer Ihnen, der Nita heißt", sagte er unvermittelt, während er einen Schritt auf sie zuging.
"Ich auch nicht", antwortete sie verunsichert.
"Und erst recht kenne ich keine Nita, deren Mann Patrick hieß."
Sie nickte, auch wenn sie nicht wusste, worauf er hinauswollte.
"Sie haben die Anzeige doch sicher auch gesehen, oder?", fragte er schließlich.
"Ja, ich -" Unbehagen machte sich in ihr breit. "Ich habe allerdings keine Ahnung, was das zu bedeuten hat."
Er kam näher und legte die Hand auf ihre Schulter. Sein Blick war verständnisvoll, geradezu väterlich, während sich ihr Unbehagen langsam auflöste. Sie erinnerte sich an das Verständnis, das er ihr gerade in den ersten Wochen nach Patricks Tod entgegengebracht hatte, die Fürsorge, die er sie selbst heute noch hin und wieder spüren ließ. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass sie tatsächlich so etwas wie väterliche Gefühle in ihm weckte.
"Wenn es etwas gibt, das Sie klären müssen, können Sie sich gerne für den Rest des Tages freinehmen", sagte er. "Frau Kleinfeld und ich schaffen das schon allein."
"Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas zu klären habe?"
"Weil Sie schon den ganzen Tag über so konfus sind."
"Ich? Konfus?"
"Na ja. Sie sind heute schon zum zweiten Mal ins Lager gegangen, um nach Restexemplaren der Rückert-Anthologie zu suchen." Er lächelte mitfühlend. "Und wir wissen beide, dass wir die Anthologie seit über einem Jahr nicht mehr im Programm haben."
"Oh."
"Vielleicht hat Ihr Zustand etwas mit besagter Annonce zu tun?"
"Nein, ich ... ich weiß nicht mal, von wem die Annonce ist. Ich habe nur ein wenig Zeit für mich gebraucht, deshalb bin ich ins Lager gegangen. Es tut mir leid. Wenn Sie wollen, arbeite ich dafür gerne die Mittagspause durch."
"Sie sollen nicht mehr arbeiten", antwortete er. "Sondern weniger. Deshalb würde ich Ihnen raten, mein Angebot anzunehmen und sich den Rest des Tages freizunehmen."
"Wenn Sie meinen", sagte sie mit einem leicht unhöflichen Unterton.
"Ja, das meine ich."
*
Sie ließ sich
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