DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
spürte, wie sich seine Kehle zusammenschnürte. Ihre Worte schnürten ihm die Luft zum Atmen ab. Sie hatte die Annonce gelesen. Sie hatte sie wirklich gelesen. Eine Erkenntnis, die mit dem Wissen, dass sie einen anderen Absender dahinter vermutete, geradezu unerträglich war. Was, wenn sie ihn tatsächlich nicht anrufen würde? Was, wenn sie für immer in dem Glauben blieb, dass ein gewisser Detlef dafür verantwortlich war?
Er griff nach seinem Handy und schaute zum hundertsten Mal aufs Display. Keine Anrufe. Keine Nachrichten. Nichts.
Zum ersten Mal seit Beginn seiner Suche spürte er so etwas wie Resignation. Die Vermutung, dass irgendetwas, irgendjemand , nicht wollte, dass er Nita fand, drängte sich ihm regelrecht auf. Warum sonst war jeder seiner Versuche gescheitert? Warum schien auch dieser Schachzug kurz vor dem Ziel seinen Sinn zu verlieren? Hatte Marie womöglich recht, und seine Suche nach Nita war tatsächlich nichts weiter als Ablenkung? Eine Beschäftigung, die ihn über eine gewisse Zeit hinwegtrösten sollte, nur um ihm den Übergang in ein neues Leben zu erleichtern? Und was für eine Art von Leben sollte das sein?
Er legte seine Arme auf den kleinen Tisch des Gästezimmers und ließ seinen Kopf darauffallen.
Er war müde. Müde vom Denken. Müde vom Fühlen. Müde vom Suchen.
*
Jan war das, was man einen wortkargen Menschen nannte. Bis heute fragte sich Simon, was seine redselige Schwester damals an ihm gereizt hatte, was ihr selbst nach elf Jahren Ehe in stillen Momenten noch immer ein verliebtes Lächeln abverlangte. Vermutlich galt auch hier das goldene Gesetz der Gegensätze, die sich anziehen.
Simon schob den Teller mit den Würstchen zu Jan hinüber, der ihm stumm zunickte. Das traditionelle Abendessen am Heiligabend. Kartoffelsalat und Wiener, zwei herausgeputzte Elternteile und vier ungeduldig gegen Tischbeine schlagende Kinderfüße. Die Bescherung stand unmittelbar bevor und machte vor allem Timmy zunehmend nervös.
"Mama, wann können wir die Geschenke auspacken?"
"Wenn wir aufgegessen haben."
"Aber ich hab gar keinen Hunger mehr", antwortete er ungeduldig und stocherte mit seiner Gabel in einer Ansammlung von Gewürzgurkenstummeln herum, die er aus dem Salat herausgepickt hatte.
" Wir essen aber noch", antwortete Marie. "Und so lange wirst du dich noch gedulden müssen."
"Aber Onkel Simon ist auch schon fertig."
Simon nickte seiner Schwester entschuldigend zu.
"Und wie du siehst, drängelt er trotzdem niemanden, schneller zu essen."
Das Klingeln eines Handys störte die Unterhaltung. Erst im zweiten Moment bemerkte Simon, dass es seines war. Jegliche Tischmanieren ignorierend, sprang er zur Kommode neben dem Esszimmertisch und nahm den Anruf entgegen. Seine Hoffnungen wurden jedoch bereits im nächsten Moment enttäuscht. Keine fremde Frauenstimme. Keine Antwort auf seine Annonce.
Nur Frau Jäger.
"Simon, sind Sie das?"
"Ja, Frau Jäger. Gibt es irgendwelche Probleme?"
"Ich hoffe, ich störe nicht?"
"Nein, Frau Jäger. Was gibt es denn? Ist etwas mit dem Haus?"
"Ich habe ein Paket für sie entgegengenommen. Ein sehr großes. Und ich dachte, jetzt an Weihnachten ist es vielleicht etwas, auf das sie warten."
"Ein Paket?" Simon überlegte. "Ach, das wird sicher die jährliche Post meiner Großtante aus der Schweiz sein."
"Oh."
"Ich würde mich freuen, wenn Sie es bis zu meiner Rückkehr aufbewahren könnten."
"Aber natürlich, mein Junge. Wenn es so lange warten kann."
"Und wie verbringen Sie Weihnachten, Frau Jäger?"
"Ich habe mir eine Hühnerbrühe gekocht", antwortete sie. "Die werde ich bis übermorgen essen können. Genau das Richtige für kalte Wintertage. Und ich freue mich auf ein ganz besonders gutes Buch. Das liegt schon viel zu lange ungelesen in meinem Bücherregal."
Der Gedanke, diese gutherzige Frau allein mit einer Schüssel Brühe am Küchentisch zu wissen, bedrückte ihn. All die Monate hatte sie sich so rührend um sein Wohlergehen gekümmert, sein Haus bewacht und stets sein Wohl über ihr eigenes gestellt, während er nicht einmal daran gedacht hatte, ihr ein Weihnachtsgeschenk zu besorgen. Er schämte sich. Und mit der Scham meldete sich sein schlechtes Gewissen.
Sein Blick wanderte durch die offene Esszimmertür zum festlich geschmückten Weihnachtsbaum. Der Geruch von Zimt stieg ihm in die Nase. Fragend suchte er Maries Blick, die bereits zu ahnen schien, was er vorhatte.
"Kann ich Sie gleich zurückrufen, Frau Jäger?"
Kapitel
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