DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
Warum war er nicht schon viel eher darauf gekommen?
*
Er markierte die geschriebenen Zeilen und löschte sie. Zum mittlerweile dreizehnten Mal. Welche Worte auch immer er für den Moment als richtig empfand, schon nach wenigen Sekunden wurden sie zu ausdruckslosen Buchstaben, waren entweder zu direkt, zu einschüchternd oder einfach nur nichtssagend.
Wie sollte er die richtigen Worte finden, um eine Frau zu erreichen, die er im Grunde gar nicht kannte? Wie sollte er ihre Neugier wecken, ohne sie zu verschrecken?
Vielleicht war es besser, sich möglichst kurz zu fassen. Wenige Worte boten auch weniger Potenzial für Missverständnisse. Er begann, seine Gedanken erneut zu formulieren.
Nita, bitte melde dich. Du kennst mich nicht, aber ich muss dringend mit dir über Patrick reden.
Simon
Besser. Viel besser. Er war sich sicher, dass die Annonce in Kombination mit seiner Telefonnummer gerade genug aussagte, um Nita anzusprechen, und trotzdem genug verschwieg, um ihren Anruf unausweichlich zu machen. Wie sonst sollte sie erfahren, was es mit seinem Wissen über Patrick auf sich hatte?
Fast schämte er sich ein wenig, auf diese Weise ihre ungebrochenen Gefühle für Patrick auszunutzen, nur um zu erreichen, dass sie sich meldete. Doch die Tatsache, dass es ja tatsächlich ihre Briefe an Patrick waren, die er in seinem Buch lesen konnte, fegten seine letzten Skrupel beiseite. Es war der einzige Weg und die einzige Ebene, auf der er Nita erreichen konnte.
Er druckte das Blatt mit dem Text und seiner Telefonnummer aus, faltete es und steckte es in die Brusttasche seines Hemdes. Diese Angelegenheit würde er nicht per Mail klären, sondern persönlich. Schon jetzt freute er sich darauf, im Servicecenter der Lokalzeitschrift das auffälligste Design für seine Annonce auszusuchen. Er durfte es nicht riskieren, dass sie es übersah. Und wenn sie es schon nicht selbst las, würde es ganz sicher jemandem aus ihrem Familien- oder Bekanntenkreis auffallen.
*
Das Leben fängt an, eine seltsame Eigendynamik zu entwickeln. Der Schmerz um dich wird mehr und mehr zum Teil von mir, ich wehre mich nicht mehr dagegen. Ist es nicht erstaunlich, welche Wege das Herz geht, um sich selbst zu schützen? Um Verlust und Tragik auszuhalten?
Ich nehme plötzlich viel mehr Dinge wahr als noch vor wenigen Wochen. Es kommt mir so vor, als würde sich mein Blick erweitern. Mein Blick auf die Welt, die Menschen oder die Dinge am Wegesrand. Ich glaube fast, dass ich stärker werde. Dass ich in der Lage bin, dich bei mir zu tragen und doch die Augen für den Rest der Welt zu öffnen. So wie früher. Als ich wusste, dass du an meiner Seite bist, wohin ich auch gehe.
Ich habe übrigens zum ersten Mal seit ... zum ersten Mal seit langer Zeit Claudia ins Kino eingeladen. Sie hat ja schon öfter versucht, mich irgendwohin mitzuschleppen, und manchmal hat sie es auch geschafft, aber diesmal war ich es selbst, verstehst du? ICH habe sie gefragt! Das ist ein sehr großer Schritt für mich, und ich bin fast ein bisschen stolz auf mich. Ich weiß, dass du auch stolz auf mich wärst. Allerdings weniger wegen der Filmwahl. Eine typische Liebeskomödie, wobei das Wort Komödie nur Titel ist, nicht Programm, denn wirklich lachen konnte man nicht drüber. Aber was soll's? Ich habe es gewagt. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit. Und das Beste: Ich habe es nicht bereut.
Vielleicht wird es mir künftig öfter gelingen, die Zeit des Einigelns (so nennt Claudia es immer) zu unterbrechen, wenn auch nur für ein paar Stunden.
Kapitel 10
"Nein, Onkel Simon, nicht die blauen Kugeln", protestierte Rhea und lief aufgeregt vom Weihnachtsbaum zu dem verbeulten Pappkarton auf dem Wohnzimmertisch. "Dieses Jahr wollen wir alles in Rotweiß machen. Wir haben ausgelost, welche Deko wir nehmen, und ich hab gewonnen."
"Tatsächlich?" Simon lächelte, während er die blaue Kugel zurück in den Karton legte und nach einer roten griff. "Wer hat denn alles teilgenommen an der Verlosung?"
"Papa, Mama und Timmy natürlich. Stell dir vor, Timmy wollte alles knallbunt haben. Typisch Jungs. Haben überhaupt keinen Sinn für Stil."
Das Wort Stil aus dem Mund seiner neunjährigen Nichte zu hören bereitete ihm ein heimliches Vergnügen, das er zu verbergen versuchte. Er wusste, wie wichtig es Rhea war, ernstgenommen zu werden.
"Hast du auch einen Weihnachtsbaum zu Hause?", fragte sie.
Bilder vergangener Weihnachtsfeste tauchten in seinem Kopf auf. Weihnachtsfeste mit
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