DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
für einen Anruf bei Claudia. Vielleicht hatte sie Lust auf Kino. Und während sie feststellte, dass sie das erste Mal seit Monaten keine Einladung annahm, sondern sie selbst aussprach, schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
*
Er klappte den Laptop auf und schob ihn auf den äußersten Winkel seiner Knie, bis die Sicht auf den Bildschirm optimal war. Es war kalt, aber trocken, und er war froh, dass ihm dieser Umstand die Umsetzung seines spontan gefassten Planes ermöglichte.
Den Kragen seines Mantels hatte er aufgestellt, die altmodische, aber zweckmäßige Fellmütze bis über die Ohren gezogen und die Hände in praktischen Autohandschuhen verpackt, aus denen lediglich die Fingerkuppen ragten.
Es war eine verrückte Idee, die Arbeit an seinem aktuellen Projekt ausgerechnet im Park fortzusetzen; deshalb hatte er es auch unterlassen, Marie von seinem Vorhaben zu erzählen. Dennoch wusste er, dass er es sich selbst nicht verzeihen würde, wenn er nach seinen gescheiterten Versuchen dem neuen Anhaltspunkt nicht nachgehen würde.
Unauffällig musterte er die Menschen, die an seiner abgelegenen Bank vorüberkamen, und er ertappte sich bei der Feststellung, dass sich die Gesichtsausdrücke der Leute am Morgen tatsächlich ähnelten. Verbissene Mienen, eng zusammenstehende Augen, stramme Mundwinkel mit leichter Tendenz nach unten. Das waren sie also, die Morgenmenschen. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Mit jedem Brief war ihm Nita ein kleines bisschen vertrauter geworden - und mit ihr die Erkenntnis, dass das wirklich Interessante im Leben oft im Alltäglichen lag und dass es dessen Schicksal war, oftmals unentdeckt zu bleiben.
Er war sich nicht sicher, ob er sich für den richtigen Park entschieden hatte. Neben diesem gab es in der Nähe noch zwei weitere; trotzdem hatte er das unumstößliche Gefühl, hier beginnen zu müssen. Keiner der anderen Parks war in seiner Anordnung und seinem lebhaften Treiben mit diesem vergleichbar. Wenn sie sich dem Beobachten von Morgen-, Mittags- und Abendmenschen hingab, dann ganz sicher an einem Ort wie diesen.
Während er die Zeilen auf seinem Bildschirm nur kurz überflog, ließ er seinen Blick über den Rand des Laptops schweifen. Bis auf ein älteres Ehepaar hatte niemand auf einer der anderen Bänke Platz genommen, und auch die Leute, die an ihm vorbeihetzten, zeigten keinerlei Nita-Potenzial. Er stellte sich vor, wie sie durch den Park schlenderte, ohne sich irgendwo hinzusetzen. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, musterte sie mit aufmerksamem Blick die Menschen um sich herum. Er war sich sicher, dass er sie erkennen würde. Und er hoffte auch, dass er den Mut aufbringen würde, sie anzusprechen, wenn sie seinen Aussichtspunkt passierte. Im entscheidenden Moment würde er wissen, was zu tun war.
Doch es wurde Mittag, es wurde Nachmittag, und mit dem Verstreichen der Stunden verließ ihn allmählich die Zuversicht, Nita zu finden. Zweimal hatte er kurzzeitig die Hoffnung gehegt, die eigene Illusion ihrer Persönlichkeit in einer der Passantinnen zu entdecken, doch im letzten Moment unterließ er es, sie anzusprechen. Einmal zog die Fremde wichtigtuerisch einen Organizer aus der Manteltasche, was seiner Vorstellung von Nita nicht im Mindesten entsprach, das andere Mal wurde deutlich, dass der Mann neben ihr kein zufällig vorbeieilender Passant war, sondern ihr Begleiter, der ihre Hand mit seiner umschloss.
Simons ursprünglicher Entschluss, mit diesem Tag eine ganze Reihe von Beobachtungstagen einzuleiten, geriet ins Wanken. Vielleicht hatte Marie recht. Vielleicht war sein Plan aussichtslos. Vielleicht war er besessen. Und auch wenn er sich sicher gewesen war, dass seine Vorstellung von Nita stimmte und ihm ermöglichen würde, sie zu erkennen, wenn sie vor ihm stand, so war ihm klar, dass er sich lediglich auf Gefühle verlassen hatte. Gefühle, die ihn ahnen ließen, aber weit davon entfernt waren, Tatsachen zu sein. Er fühlte nur. Aber im Grunde wusste er nichts.
Dennoch ließ ihn der Gedanke nicht los, dass sie in der Nähe wohnte, arbeitete, ein Leben führte, so wie er es tat. War es wirklich so schwierig, eine Frau zu finden, die einen Ort ihr Zuhause nannte, der auch seine Heimat war?
Das Rascheln einer Zeitung, die ein Mann in den Müllbehälter neben der Bank warf, weckte Simons Aufmerksamkeit. Instinktiv griff er nach dem zerknüllten Papier und strich es glatt, während namenlose Gedanken durch seinen Kopf schossen.
Natürlich.
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