DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
beweist mir allein die Tatsache, dass du mir bereits zum zweiten Mal geschrieben hast. Nicht unbedingt in erhoffter Länge, aber immerhin.
Wie es aussieht, werde ich das Pensum an mitzuteilenden Gedanken wieder allein tragen müssen. Aber gut, damit kann ich leben. Solange ich nur weiß, dass du diese Gedanken lesen wirst.
Marie und die Kinder haben mich heute besucht. Der erste Besuch im neuen Jahr. Ihr Mann, Jan, musste arbeiten, aber wir haben ohnehin nie einen wirklich guten Draht zueinander gehabt. Wobei "nicht gut" die falsche Umschreibung ist, denn das würde ja bedeuten, dass unser Draht schlecht ist. Das entspricht aber nicht der Wahrheit. Vielmehr ist es so, dass wir gar keinen Draht zueinander haben. Keinen guten, keinen schlechten. Wir kennen uns, wir betrachten die gegenseitige Existenz als in Ordnung. Aber damit hat es sich dann. Wenn ich nicht wüsste, wie sehr er meine Schwester liebt (und wie sehr sie ihn), würde ich annehmen, dass er jedem anderen Menschen mit denselben Empfindungen begegnet wie mir. Er scheint einfach nur da zu sein, so wie jeder andere auch einfach nur da ist. Weder habe ich ihn je mit Begeisterung über irgendwen sprechen hören noch mit Missmut.
Marie dagegen ist das wahre Energiebündel. Nichts tut sie nur halb. Wenn sie sich aufregt, glaubt man, sie würde jeden Moment Feuer speien. Wenn sie sich über etwas freut, egal wie nichtig der Anlass erscheinen mag, glaubt man, sie würde auf der Stelle vor Glück zerspringen. Das ist Marie. Ich habe ihr nie gesagt, dass ich sie für diese Eigenschaft bewundere. Aber das tue ich, denn in allem, was sie tut, ist sie vor allem Eines: lebendig! Und diesen Charakterzug hat sie auch an Rhea und Timmy weitergegeben.
Ich bin mir sicher, du würdest sowohl die Kinder als auch Marie mögen. Sie passen zu der Herzlichkeit, die ich in dir sehe (auch wenn du dich mit aller Kraft darum bemühst, sie zu verbergen).
So, das wären sie für heute: Meine Gedanken, die ich dir - wie du es so nett formuliert hast - vor die Füße geknallt habe. Du bist herzlich eingeladen, sie zu kommentieren. Oder, je nach Belieben, mit kühler Ignoranz abzuweisen. Ich werde beides akzeptieren, denn für den Moment habe ich sicher noch nicht das Recht, mir eine Reaktion auszusuchen, oder?
Simon
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Hallo Nita,
du scheinst dein Vorhaben, dich nicht auf einen BriefBEKANNTEN einzulassen, konsequent einzuhalten. Soll ich aufhören, dir zu schreiben? Aufhören, daran zu glauben, dass wir uns helfen könnten oder vielleicht sogar sollten? Bitte tu mir wenigstens den Gefallen und sag mir, wie ich das mit dem Aufhören hinbekomme. Denn ich glaube, dass ich mich tatsächlich (da muss ich meiner Schwester recht geben) verrannt habe.
Simon
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Simon,
deine Masche ist plump, sowohl die bisherige als auch dein neuer Versuch, mich dazu zu bringen, dir das Aufhören zu erleichtern. Trotzdem halte ich es für richtig, frag mich bitte nicht warum, dir zu antworten.
Meine Freundin sagte neulich, dass man es den Menschen verzeihen muss (genau genommen hat sie nicht Menschen, sondern Männer gesagt, aber ich mag es lieber pauschaler), wenn sie durch mangelndes Feingefühl ihre eigentlich vernünftigen Absichten verschleiern. Vielleicht haben mich ihre Worte doch stärker beeinflusst, als ich mir eingestehen wollte, denn in einer Sache muss ich dir inzwischen recht geben: Ja, ich habe es gespürt. Das Vertrauen zwischen uns. Und es hat mir sogar ein wenig Angst gemacht, weil ich es nicht einzuordnen wusste. Der Ausgang unseres Treffens hat dieses Vertrauen jedoch sehr schnell wieder zerstört. Mittlerweile bin ich jedoch an dem Punkt angekommen, an dem es mir egal ist, warum du mich aufgesucht hast oder warum du versucht hast, mich gewisse Dinge glauben zu lassen. Ich mag nicht mehr nachdenken, nicht mehr fragen - auch und gerade nicht mich selbst. Ich habe in den letzten Monaten so viel Energie in Fragen investiert, dass ich keine Kraft mehr habe. Und ich will sie gar nicht kennen, die Wahrheiten und Halbwahrheiten, die sich ihren Weg zu mir suchen. Am Ende fehlt mir doch der Wille, sie voneinander zu unterscheiden. Im Prinzip fehlt mir der Wille zu allem. Es ist vielmehr ein Drang, gewisse Dinge zu tun. Dinge, von denen ich glaube, dass sie mir - zumindest für den Moment - guttun. Das ist der Plan. Das ist das Schema, nach dem alles in mir und um mich herum geschieht. Und vermutlich auch der Grund dafür, warum ich dir trotz allem schreibe.
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