DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
deiner letzten Briefe aufgreifen. Vielleicht hast du recht, vielleicht geht es gar nicht so sehr darum, dass wir einander schreiben, sondern jeder seine eigenen Gedanken zu Papier bringt, als wäre er allein, um sie im Anschluss dem jeweils anderen mitzuteilen. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, nur für mich selbst zu schreiben, denn ich kann all diese Dinge nur zu Papier bringen in dem Wissen, dass am anderen Ende des Briefes dein aufmerksamer Blick wartet. Und so wird es immer ein "an dich schreiben" sein und niemals ein Monolog, selbst wenn es manchmal so scheint.
Unmissverständlicher wäre natürlich ein Gespräch unter vier Augen. Ein wirklicher Kontakt, der über das geschriebene Wort hinausgeht. Meinst du nicht auch?
Simon
*
Wir haben uns einmal getroffen, Simon. Wir haben uns gesehen und miteinander geredet, bis das Treffen einen eher unangenehmen Ausgang genommen hat. Warum auch immer ich mich dazu habe hinreißen lassen, es dennoch zu einem erneuten Kontakt zu dir kommen zu lassen, ich weiß, dass es für uns beide das Beste ist, beim Briefkontakt zu bleiben. Glaub mir. Alles andere würde nur zu Verwirrungen führen, und ich fühle mich derzeit noch nicht stark, dem zu begegnen. Vielleicht werde ich niemals stark genug dafür sein.
Nita
*
Liebe Nita,
ich weiß, dass unser Treffen einen äußerst unschönen Ausgang hatte. Aber wenn das mittlerweile zwischen uns entstandene Vertrauen groß genug für Briefe ist, warum kann es dann nicht auch groß genug für einen echten Kontakt sein? Du warst wütend auf mich, irritiert wegen der Dinge, die ich gesagt habe, aber mittlerweile hast du dich davon überzeugen können, dass ich kein Verrückter bin. Und wenn, dann nicht verrückter als du oder irgendjemand sonst.
Versteh mich nicht falsch, ich mag es, dir zu schreiben, und ich genieße es noch mehr, von dir zu lesen. Aber gerade der 13. September und die Wege, die er für uns abgebrochen hat, sollten uns umso deutlicher zeigen, wie unverzeihlich es ist, seine Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen.
Ich spüre ein Vertrauen zwischen uns, das ich bisher nur von Emma oder meiner Schwester kannte. Ein Vertrauen, das mir Zuversicht für die Zukunft gibt. Das Gefühl, nicht allein zu sein mit meinen Erinnerungen und meinen Ängsten vor der Macht, die diese Erinnerungen bis heute auf mich haben. Wir können uns gegenseitig helfen, Nita. Das weiß ich. Und du weißt es auch.
Simon
*
Ja, Simon. Wir helfen uns. Aber wir tun es bereits jetzt. In diesen Briefen. In den Worten, die uns verbinden, ohne uns dabei unter Druck zu setzen. Versteh doch, diese Art des Kontaktes ist die einzige, die sich wirklich mit meinem derzeitigen Leben vereinbaren lässt.
Einem Stück Papier macht es nämlich nichts aus, dass ich an einem freien Tag um zwei Uhr nachmittags noch immer im Pyjama durch die Wohnung irre. Einem Stück Papier macht es nichts aus, dass ich Stunden brauche, bis es mir gelungen ist, meine Gedanken in Worte zu fassen. Einem Stück Papier macht es auch nichts aus, wenn ich es zerknülle und in den Mülleimer werfe. Generell ist ein Stück Papier der ideale Begleiter meines Alltags, denn es passt sich meinen Gepflogenheiten schweigend und geduldig an. Es widerspricht nicht und spendet doch mehr Trost als alles andere.
Du sagst, dass es ein Vertrauen zwischen uns gibt. Ein Vertrauen, das groß genug ist, um auch in der "echten Welt" zu bestehen. Aber wie kannst du dir da so sicher sein, Simon? Du kennst mich doch überhaupt nicht. Wir haben uns ein paar Briefe geschrieben, Erfahrungen ausgetauscht - aber es verbindet uns keine jahrelange Freundschaft. Im Grunde sind wir Fremde, die einem gemeinsamen Schicksal vielleicht mehr Gewicht geben, als es verdient.
Nita
*
Liebe Nita,
du vergisst dabei eines. Ein Stück Papier kann erst dann einen wirklichen Dienst erweisen, egal ob nun dem Absender oder dem Empfänger, wenn es jemanden gibt, der es mit Worten füllt. Und wenn ich ein Stück Papier mit Worten füllen kann, warum kann ich dir diese Worte dann nicht ebenso gut persönlich sagen?
Es ist mir egal, ob du dabei einen Pyjama trägst oder mehrere Stunden brauchst, um die Antwort auf eine Frage zu finden, die ich dir oder die du dir selbst gestellt hast. Das alles spielt keine Rolle, denn du vergisst, dass es mir genauso geht, Nita. Dass ich weiß, was du durchgemacht hast. Wie oft hört man diese Floskel "Ich weiß, wie es dir geht" - aber sei ehrlich, Nita: Hast du jemals einen getroffen,
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