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Das Glück mit dir (German Edition)

Das Glück mit dir (German Edition)

Titel: Das Glück mit dir (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lily Tuck
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Wange – sie ist nun kühler. Mit den Fingern zieht sie die leicht erhabene Narbe auf seiner Stirn nach; sie berührt sein Ohrläppchen, seinen Hals, seine Schultern. Wieder lässt sie den Kopf an seine Brust sinken. Aber was ist, fragt sie sich, wenn die Menschen bei einer Katastrophe sterben, bei einer Explosion oder einem Flugzeugabsturz, und ihre Leichen vollständig verschwinden oder zu Asche werden, zu Gischt – ein Wort, das sie immer gemocht hatte – oder, ganz einfach, in Atome zerfallen? Sind das dann noch tote Menschen? Hier beginnt das schwierige Reich der Metaphysik. Ein Reich, das sie nicht zu betreten wagt.
    Was ist mit Philips Seele? Ist seine Seele von uns gegangen und schwebt nun irgendwo im Äther und sucht einen Ort, an dem sie sich niederlassen kann?
    Draußen bläst der Wind in heftigen Böen und sie hört, wie sich die Zweige bewegen; der Fensterladen schlägt wieder. Zweimal in rascher Folge.
    An mehreren Nachmittagen die Woche geht Philip mit Jean-Marc segeln. Jean-Marc ist ein angenehmer Begleiter, sagt Philip zu Nina, intelligent, ernsthaft. Er plant, eine Segelschule auf Belle-Île zu eröffnen, und Philip gibt ihm geschäftliche Tipps. Als Gegenleistung bringt Jean-Marc Philip allerlei bei – nicht nur über das Segeln, sondern auch über das Meer, die Gezeiten, die Gegend.
    Du musst mal mit uns kommen, sagt Philip zu Nina. Ich suche uns einen guten Tag aus, an dem es nicht zu windig ist. Es wird dir gefallen, ich verspreche es dir. Und mit Jean-Marc an Bord wirst du dich sicher fühlen, fügt er hinzu.
    Ja, vielleicht mal, antwortet Nina, die mit Segeln noch nicht viel anfangen kann.
    Aber sie zieht es vor, im Haus zu bleiben, zu lesen, in der Sonne zu liegen, zu schwimmen. Manchmal arbeitet sie ein wenig im Garten, trimmt die Hortensien. In diesem Sommer hat sie auch angefangen, Aquarelle zu malen. Sie versucht, schnell zu arbeiten, nicht lange zu überlegen.
    Wie hat alles angefangen?
    Sie haben im La Mère Irène gegessen, einem beliebten Lokal in Sauzon. Es ging laut und lebhaft zu. Jean-Marc ist ein Kind der Stadt, ein Lokalheld, er kennt jeden – den Küchenchef, die Kellnerinnen, die Gäste. Man ruft sich quer über die Tische zu; das Essen ist aus der Gegend und preiswert. Es wird viel Wein getrunken.
    Philip erklärt Zenos Paradox von Achilles und der Schildkröte. Sie weiß nicht mehr, warum und wie das Thema aufkam, aber sie erinnert sich noch daran, dass sie ein rückenfreies Kleid mit rotem Zickzackmuster trug, das im Nacken mit einem Band geschlossen wird, und einen weißen Baumwollpullover über die Schultern geworfen hatte; sie isst moules , gekocht in Knoblauch und Weißwein, und frites .
    Das heißt, dass ich keinen Raum durchqueren kann, sagt Philip, erhebt sein Weinglas und zeigt quer durchs Restaurant – er wirkt ein wenig angetrunken –, weil ich eine unendliche Zahl von Punkten passieren müsste, bevor ich dort ankomme. Das heißt im Grunde, dass ich überhaupt keine Strecke zurücklegen könnte und also Bewegung an sich unmöglich wäre. Aber ich kann mich natürlich bewegen, sagt er ziemlich laut, weshalb ich glaube, dass Unendlichkeit zwar ein eleganter und wichtiger Begriff in der Mathematik ist, aber in der physikalischen Welt keine Entsprechung hat. Ich kenne keine einfache Lösung für Zenos Paradox, aber ich weiß, dass ich hier durch diesen Saal gehen kann.
    Um das zu beweisen, springt Philip von seinem Stuhl auf. Dabei wirft er ihn um, gerät ins Straucheln, und als er versucht, auf einem Bein zu stehen – dem Bein, das nicht richtig zusammengewachsen ist –, verliert er das Gleichgewicht. Er stürzt schwer und schneidet sich die Stirn an seinem Weinglas auf.
    Martine kreischt auf.
    Kopfwunden bluten immer stark, sagt Philip und drückt sich erst eine, dann zwei Servietten an die Stirn.
    Jean-Marc begleitet Philip und Nina zu der kleinenKlinik in Le Palais und wartet, während der diensthabende Arzt die Wunde von Splittern säubert und vernäht. Der Arzt besteht darauf, Philip zur Beobachtung über Nacht im Krankenhaus zu behalten, versichert Nina aber, dass eine Gehirnerschütterung eher unwahrscheinlich sei.
    Eine reine Vorsichtsmaßnahme, sagt er.
    Jean-Marc fährt Nina nach Hause.
    Da fallen ihr die Blutflecke auf ihrem rückenfreien Sommerkleid auf. Sie sorgt sich auch um ihren Atem – dass er nach Knoblauch riecht. Zu spät bemerkt sie außerdem, dass ihr der weiße Baumwollpullover von den Schultern geglitten sein muss und nun vergessen

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