Das Glück mit dir (German Edition)
im La Mère Irène auf dem Fußboden liegt.
Zeno, sagt Jean-Marc, lacht und schüttelt den Kopf, und löst den Knoten ihres rückenfreien Sommerkleids.
Wo, überlegt sie, war Louise in jenem Sommer?
Es muss der Sommer gewesen sein, in dem Louise Philip und Nina anbettelt, sie ins Mädchenferienlager nach New Hampshire fahren zu lassen.
Und was ist mit Belle-Île? Wollten wir nicht zusammen segeln? Philip will sie nicht fahren lassen.
Alle meine Freundinnen gehen zelten. Wieso darf ich nicht?
Ich komme nicht mit nach Frankreich. Ich hasse Frankreich, sagt Louise auch.
Gut, ich mache dir einen Vorschlag, Lulu. Wir werfen eine Münze. Bei Kopf fährst du Zelten, bei Zahl nach Frankreich.
Das ist nicht fair.
Wieso?
Dad, bitte.
Louise stürmt in Tränen aufgelöst aus dem Zimmer.
Philip wirft eine Münze hoch in die Luft und klatscht sie auf den Handrücken. Kopf, ruft er Louise hinterher. Kopf, Lulu – du kannst Zelten fahren.
Zeig mal, sagt Nina.
Es ist Zahl.
Bibbernd schlägt sie die Arme um sich. Es tröstet sie ein wenig, den rauen Stoff der Windjacke zu spüren. Draußen kann sie immer noch den Wind pfeifen hören, und im Zimmer ist es ziemlich dunkel.
Philip ist als Silhouette auf dem Bett zu erkennen.
Geh zurück, sagt sie sich. Geh zurück.
Sie kann seine Umarmung spüren. Seinen warmen Atem an ihrem Hals. Süß, verlockend, vertraut. Sie haben eine schöne Zeit zusammen. Sie lachen viel. Ist Lachen das Geheimnis einer guten Ehe?, fragt sie sich.
Sie kennen einander gut.
Genau das habe ich auch grad gedacht, sagt sie.
Du liest meine Gedanken, sagt Philip.
Ist es das Essen? Die Luft, die sie atmen?
Einmal haben sie fast das Gleiche geträumt.
Im Bett weiß sie, was er mag, was ihm gefällt; er weiß, was ihr gefällt, wie sie zum Orgasmus kommt. Es ist nicht kompliziert; es ist nicht schmutzig, nicht peinlich. Manchmal ist es vielleicht zu vorhersehbar, aber mit zunehmendem Alter und schwindenden Möglichkeiten ist auch das tröstlich. Sie sind beide zufrieden. Sie sind beide befriedigt.
Es hat zu regnen angefangen, sanft prasselt es gegen die Scheibe. Sie geht zum Fenster und öffnet es. Sie lehnt sich hinaus, lässt den Regen auf ihr Gesicht fallen. Ein feiner, frischer Nebel, den sie tief einsaugt. Sie stellt sich das Gras vor, die Pflanzen, die Bäume, die größer und grüner werden.
Sie überlegt kurz, ob sie die Fenster in ihrem Atelier geschlossen hat. Egal. Die drei Bilder, an denen sie arbeitet, stellen Himmel und Wasser dar. Schwer zu erkennen, wo das Wasser aufhört und der Himmel anfängt.
Sie verwendet viel weiße Farbe. Weiß und Gelb und etwas Blau. Sowohl das Meer wie der Himmel sehen wie zufällig hingeworfene Tuchballen aus. Die Bilder sollen zusammen ein Triptychon ergeben.
Ein Triptychon?
Wie abgehoben.
Für wen hält sie sich? Hans Memling? Francis Bacon?
Gleich morgen früh wird sie die Leinwände vernichten.
Ein Wagen fährt langsam vorbei, das Scheinwerferlicht ist im Regen nur verschwommen wahrzunehmen. Widerstrebend schließt sie das Fenster und zieht die Vorhänge zu, bevor sie sich wieder zu ihm setzt.
Er fährt zu schnell. Oft ist er unaufmerksam.
Schau mal da, sagt er, eine Hand am Steuer, während die andere aus dem Fenster zeigt.
Der Baum. Das schöne Feld.
Pass auf, antwortet sie.
Da wendet einer.
Ein Lastwagen.
Manchmal hat sie das Gefühl – manchmal ist sie sich sogar sicher –, dass auch sie bei einem Autounfall sterben wird, so wie Iris. Es wird ein schrecklicher Zufall sein. Andererseits, treten solche Ereignisse nicht stets gehäuft auf? Nachahmungsmorde beispielsweise. Oder ein Flugzeugabsturz, auf den gleich noch zwei andere folgen.
»Und wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine solche Tragödie wiederholt?«, wird er später vielleicht seine Schüler fragen und eine Gleichung an die Tafel schreiben. »Die Wahrscheinlichkeitsverteilung für ein seltenes Ereignis, bei dem die Zahl der Erfolge n und die Zahl der Versuche N ist, heißt Poisson-Verteilung, benannt nach dem französischen Mathematiker Siméon Denis Poisson« – Philip hält inne, um den Namen an die Tafel zu schreiben – »und ist auch unter dem Namen ›Verteilung der seltenen Ereignisse‹ bekannt, die Ladislaus von Bortkiewicz« – wieder wendet sich Philip zur Tafel und schreibt den Namen an – »prägte, als er 1898 ein Buch mit dem Titel Das Gesetz der kleinen Zahlen veröffentlichte, in dem er über einen Zeitraum von zwanzig Jahren die Zahl
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