Das Glück mit dir (German Edition)
der Soldaten untersuchte, die in den vierzehn preußischen Kavalleriekorps durch Hufschlag zu Tode kamen. Die gesammelten Daten zeigen, dass die Häufigkeit des Ereignisses einer Poisson-Verteilung folgt.«
Sie kann es sich genau vorstellen. Der Regen fällt als dunkler Vorhang, die Scheibenwischer haben Mühe, die Windschutzscheibe freizuhalten, von der Straße ist nichts zu sehen als das flackernde Rücklicht des Wagens direkt vor ihnen. Die Lastwagen ziehen links und rechts riesige Spritzwasserfontänen hinter sich her, und der Radioempfang wird so schlecht, dass sie das Gerät abstellt.
Wir sollten uns neue Wischerblätter besorgen, sagt sie, um die aufkommende Spannung aufzulockern.
Philip gibt keine Antwort. Er sitzt zusammengekauert hinter dem Lenkrad, ausnahmsweise sehr konzentriert; neben ihm, auf dem Beifahrersitz, dem so genannten Todessitz, sie.
Vielleicht sollten wir kurz anhalten, bis das Gewitter vorbei ist, sagt sie.
Quatsch, antwortet er.
»Viele Mathematikhistoriker«, erklärt Philip weiter seinen Schülern, »sind der Ansicht, die Poisson-Verteilung müsste eigentlich Bortkiewicz-Verteilung heißen. Mir ist es eigentlich ziemlich egal, allerdings finde ich, dass man ›Poisson‹ viel leichter aussprechen kann.«
Nun wird sie also auf eine andere Weise sterben.
Sie schenkt sich Wein nach; die Flasche ist halb leer.
Auf sämtlichen Ablageflächen – Schreibtisch, Tische, Stühle, Fensterbänke – in seinem Arbeitszimmer im Erdgeschoss und in seinem Büro in Cambridge türmen sich Papierstapel, Zeitschriften, Tageszeitungen. Der Fußboden bietet ein ähnliches Bild.
Philip spricht nur selten über seine Arbeit – seine Arbeit außerhalb der Lehre –, und wenn er es doch einmal tut, dann beschreibt er sie als die Kunst des Zählens, ohne zu zählen.
Wenn Nina sie zu beschreiben versucht, dann sagt sie: probabilistische Methoden in der Kombinatorik.
Geht es vielleicht ein bisschen genauer, mein Schatz? sagt Philip, schüttelt den Kopf und lacht sie aus.
Nein, erwidert Nina. Irgendwas mit Randomisierung …
Derandomisierung.
Na also, sagt Philip. Klingt doch schon besser.
Alles so liegenlassen, warnt Philip Marta, die Haushälterin. Nichts anfassen.
Nein, nein, Mr. Philip. Ich fasse nichts an, versichert Marta und runzelt die Stirn. Ihr Blick verrät gleichzeitig ihre Missbilligung und ihr Martyrium.
Marta stammt aus Kolumbien. Ihre beiden Kinder, die sie schon seit drei Jahren nicht gesehen hat, leben in einem abgelegenen Bergdorf bei ihren Eltern. Einmal im Monat schickt sie ihnen alles an Geld, was sie erübrigen kann.
Marta hat acht Jahre lang für Nina gearbeitet. Nina vertraut ihr vollkommen. Sie gibt Marta abgelegte Kleider, die Reste vom Essen, alles, was sie nicht braucht.Jeden Mittwochmorgen um neun holt sie Marta an der Bushaltestelle ab und fährt sie am Nachmittag um drei wieder dorthin zurück.
Was soll sie Marta am Mittwoch sagen?
Marta ist katholisch, glaubt an Gott, Jesus Christus, die Jungfrau Maria und jede Menge Heilige. Marta wird für Philips unsterbliche Seele beten.
Wenn sie nur beten könnte. Aber es ist zu spät, an einen allmächtigen, allwissenden und gütigen Gott zu glauben. Und worum sollte sie auch beten?
Darum, mit Philip im Himmel vereint zu werden? Irgendwo hat sie gelesen – wo denn bloß? –, dass Menschen, die auf Erden ihren idealen geistigen und körperlichen Partner gefunden haben, im Himmel für alle Ewigkeit in einer Gemeinschaft vereint sein werden, die – jetzt fällt es ihr wieder ein – Emanuel Swedenborg eheliche Liebe nannte.
Und wie kam Swedenborg zu dieser Überzeugung?
Engel, behauptete er, hätten zu ihm gesprochen.
Engel – Nina schüttelt spöttisch den Kopf.
Die Vorhänge des Schlafzimmers bauschen sich plötzlich in der Zugluft auf, und sie fährt zusammen.
Wieder ergreift sie Philips Hand und dreht gedankenverloren an seinem Ehering – dem Ring, den sie als Ersatz für jenen gekauft haben, den er auf dem Meer verloren hat, vor der Küste der Bretagne.
Was hat er ihr noch mal für eine alberne Geschichte darüber erzählt?
Ein Fisch, angelockt vom Schimmer des Goldes, hathöchstwahrscheinlich den Ring verschluckt, dann verschluckte, ebenfalls höchstwahrscheinlich, ein größerer Fisch, ein Hai, den zweiten Fisch, und wer weiß, fährt Philip fort, vielleicht taucht mein Ring schließlich in einem teuren Restaurant in Shanghai oder Hongkong auf. Eine Überraschung, die am Boden einer Schale mit
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