Das Glück mit dir (German Edition)

die Kiste geschlossen ist, wissen wir nicht, ob das Atom zerfallen ist oder nicht, was bedeutet, dass es sich zugleich im zerfallenen wie im nichtzerfallenen Zustand befinden kann. Und da der Zerfall einzelner Teilchen nicht vorhersehbar ist, können beide Wirklichkeiten simultan existieren – dass die Katze tot ist und dass die Katze noch lebt. Nur wenn wir die Kiste öffnen, können wir feststellen, in welchem Zustand sich die Katze befindet.
    Ich verstehe das immer noch nicht, sagt Nina kopfschüttelnd. Ist das wie mit dem Rätsel von dem Baum, der im Wald umstürzt, ohne dass es jemand hört?
    Nur ansatzweise. Die Sache mit dem Baum, der im Wald umfällt, verdeutlicht zwar Fragen, die mit der Wahrnehmbarkeit des Universums zusammenhängen, aber ob nun jemand da ist, der es hört, oder nicht, bedeutet nicht, dass der Baum zugleich stehen bleibt und umstürzt. Den Unterschied verstehst du doch?
    Sie mag diesen Tonfall nicht. Seine Art, bestimmte Wörter zu betonen, um zu verdeutlichen, worauf er hinauswill, und dass er mit ihr spricht, als wäre sie ein Kind.
    Sie gibt keine Antwort.
    Mach dir keine Gedanken darüber, fährt Philip fort. Sieh die Katze einfach als Metapher für die paradoxe Natur der Quantenphysik.
    Vor ihrem inneren Auge sind die Katze in der Kiste und der dürre, einäugige Kater, den sie damals im Frühjahr im Parc Montsouris gesehen hat, ein und dasselbe Tier.
    Es muss sehr spät sein.
    Sie würde am liebsten einfach losheulen.
    Aber wenn sie einmal damit anfängt, kann sie nicht mehr aufhören, fürchtet sie.
    Sie würden jetzt schon im Bett liegen und schlafen.
    Philip schläft ein, sobald er ins Bett kriecht. Manchmal schnarcht er ein wenig.
    Nina wacht nachts auf. Sie wacht immer zur halben Stunde auf: Um halb vier, halb fünf, halb sechs.
    Oft steht sie auf, schiebt langsam die Decken weg, um Philip nicht zu stören, und tastet sich im Dunkeln nach unten. In der Küche öffnet sie den Kühlschrank und holt sich etwas zu trinken, geht dann über den Flur ins Wohnzimmer, macht das Licht an und legt sich aufs Sofa, um zu lesen.
    Sie liest, was ihr in die Finger kommt. Bücher, Zeitschriften, Rezepte: bei Daube de bœuf à la provençale mit Knoblauch und Sardellen läuft ihr das Wasser im Mund zusammen.
    Daube , wiederholt sie leise.
    Das sollte sie mal machen.
    Als Überraschung für ihn.
    Was habt ihr sonst noch gegessen, außer den Hähnchenhoden?, fragt Nina.
    Vogelnestsuppe. Köstlich, sagt Philip und schnalzt mit der Zunge.
    Die Nester bestehen aus Speichel – Vogelspeichel.
    Nina schneidet eine Grimasse.
    Sie sollen viel Kalzium, Eisen und Magnesium enthalten und sehr gesund sein, sagt Philip, ohne auf sie zu achten, zum Beispiel gut für die Verdauung, gegen Asthma helfen …
    Sie stellt sich vor, wie Philip die letzten Reste des essbaren Salanganennests vom Boden der wertvollen blauweißen Mingschüssel kratzt.
    … und die Libido stärken.
    Sofia – die Frau, in deren Haus wir gegessen haben   – hat erzählt, dass die Marke am Boden eines chinesischen Porzellanstücks, fährt Philip fort und wechselt das Thema, den Herrscher der Herstellungszeit nennt. Nach dem Essen hat sie mich durchs Haus geführt und mir einige ihrer wertvolleren …
    Wie sah denn das Haus aus?, unterbricht ihn Nina.
    Sehr modern, viel Glas, elegant – aber lass mich zu Ende reden. An eine Schale kann ich mich besonders erinnern, sie stammte aus der Chenghua-Periode – das ist 15. Jahrhundert – und sie war so zart, dass man hindurchsehen konnte, doch die Marke auf dem Boden war sehr grob gearbeitet, und zwar, wie Sofia erklärte, weil der Kaiser zur Zeit ihrer Herstellung noch sehr jung war und seine Handschrift sich noch nicht richtig entwickelt hatte.
    Philip hat seine Vogelnestsuppe aufgegessen, und sie stellt ihn sich nun wieder vor, wie er die Schale in die Höhe hält, um die Marke darunter zu betrachten.
    Philip lässt die Schale fallen und die Schale bricht entzwei.
    »Stellen Sie sich eine Teetasse vor, die zu Boden fällt und auf unvorhersehbare Weise in tausend Stücke zerspringt«, doziert Philip vor seinem Seminar. »Wenn man das im Film festhalten würde, dann könnte man den Film rückwärts laufen lassen und sehen, wie sich all diese Teile wieder zusammenfügen. Natürlich geht das im wirklichen Leben nicht – glauben Sie mir, ich habe es oft versucht, meine Frau schimpft schon, dass wir bald kein Geschirr mehr haben.« Niemand lacht. »Die Erklärung dafür ist«, fährt er fort,