Das Glücksbüro
diesen Abend zu vergessen. Ja, vergessen wäre gut. Ausatmen und vergessen, mit jedem Atemzug loslassen und zusehen, wie die Erinnerung versinkt. Die ganze Nacht redete er sich ein, dass es so funktionieren konnte, dass er, wann immer ihn die Bilder erreichten, nur ausatmen brauchte, um sie wieder verschwinden zu lassen.
Kurz vor dem Morgengrauen hatte er das Gefühl, die Verabredung in eine Kiste gesperrt zu haben, die er nicht mehr anrühren wollte. Noch war das Schloss nicht sicher, aber mit jeder Stunde, mit jedem Tag würde es stabiler werden, und so war es nur noch eine Frage der Zeit, wann dort nichts mehr aufsteigen konnte. Dann würde die Blamage verblassen und sich schließlich ganz auflösen.
Der Wecker klingelte um fünf Uhr.
Er stand auf, und alles war grau: sein Gesicht, sein Zimmer, seine Morgenroutine. Er verbot sich jeden Gedanken und jedes Mal, wenn er das Gefühl hatte, dass etwas aus der Tiefe auftrieb, atmete er betont aus und es sank wieder hinab.
Er feierte Geburtstag und wahrte die Fassung.
Susanne brachte ihm sein Tagewerk, und die ersten Antragsteller klopften an sein Büro. In den kleinen Pausen starrte er auf das Telefon, aber wenn es klingelte, ging er nicht ran.
Einmal kritzelte er auf einem Blatt herum und vergaß, dass vor seinem Tisch noch jemand saß.
»Herr Glück?«, fragte der Mann nach einer Weile.
Albert schreckte aus seinen Gedanken auf und sah ihn an: »Ja?«
»Können Sie mir helfen?«
Albert nickte und antwortete schwach: »Sicher.«
Albert, der Mann vom Amt, konnte jedem helfen.
Am späten Vormittag raffte er sich auf und beschloss, gegen die innere Taubheit anzugehen. Er fand Wehmeyer in dessen Büro über seine Akten gebeugt vor, doch obwohl er beschäftigt wirkte, lud er Albert ein zu bleiben.
Er klappte die Ordner zu und sah ihn freundlich an: »Herr Glück, was kann ich für Sie tun?«
Albert hatte sich keine Strategie zurechtgelegt, keinen Gesprächsplan und auch keine Wendemarken.
»Ich hätte da eine Bitte an Sie.«
Wehmeyer nickte auffordernd: »Nur heraus damit!«
»Nehmen Sie die Kündigung von Mike Schulze wieder zurück.«
Wehmeyer war sichtlich überrascht, denn Albert Glück war ein sehr diplomatischer Mann, mit einem gewissen Sinn für Humor, den Wehmeyer schätzte. Dass er so mit etwas herausplatzte, sah ihm gar nicht ähnlich.
»Das geht nicht, Herr Glück.«
»Auch wenn ich Ihnen sage, dass ich für eine seiner Abmahnungen verantwortlich bin?«
Wehmeyer atmete tief durch: Was war denn nur los mit Albert Glück? So eindringlich hatte er ihn noch nie erlebt, und dass Albert tatsächlich für eine der Abmahnungen verantwortlich zeichnen sollte, schien ihm so wahrscheinlich wie der Papst in Reizwäsche. Er beschloss, gar nicht erst darauf einzugehen, denn was immer Albert getan haben wollte, es hatte sicher nichts mit Mike Schulzes Abmahnungen zu tun.
»Das ist sehr anständig von Ihnen, Herr Glück, aber es spielt keine Rolle mehr.«
»Es wären dann nur noch zwei Abmahnungen.«
Wehmeyer seufzte: »Herr Schulze hat den Bogen einfach überspannt. Ich nehme eine Abmahnung zurück und könnte fünf weitere dazupacken, für all die Sachen, die er verbockt hat.«
»Er wird sich bessern«, insistierte Albert.
»Selbst wenn: Es bleibt die Anzeige wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Das alleine reicht schon für eine fristlose Kündigung. Wenn das publik wird …« Wehmeyer führte den Satz nicht zu Ende, gerade so, als ob er Albert Gelegenheit geben wollte, sich auszumalen, was dann passieren könnte.
»Und wenn die Anzeige zurückgezogen würde?«, fragte Albert.
Wehmeyer verzog die Mundwinkel: »Na ja, wenn das passieren würde … sagen wir so: Ich hätte ein wenig Spielraum.«
Albert nickte: »Wer hat ihn angezeigt?«
Wehmeyer schwieg.
»Wer, Herr Wehmeyer?«
Er seufzte wieder einmal, als würde er die Last der Welt auf seinen Schultern tragen, und antwortete: »Das darf ich nicht sagen.«
»Ich werde es für mich behalten.«
Er konnte Albert vertrauen, das wusste er. Niemand war so diskret wie Albert Glück. Schließlich gab er nach und sagte: »Elisabeth Seel.«
» WAS? «
»Glücklicherweise ist sie noch nicht zur Polizei gegangen. So haben wir die Chance, die Sache unauffällig zu erledigen.«
Albert war fassungslos: »Das muss ein Irrtum sein …«
Wehmeyer schüttelte den Kopf: »Nein, kein Irrtum. Und ich glaube ihr auch. Herr Schulze ist hier doch jedem Rock nachgestiegen. Das war doch nur eine Frage der
Weitere Kostenlose Bücher