Das Glücksbüro
Nudeln darin als Buchstaben geformt waren. Wie früher, als er ein Kind gewesen war. Offenbar hatte der Chefkoch seinen Optimismus wiederentdeckt und kochte in nostalgischer Verklärung Suppen, die ihn an eine Zeit erinnerten, als alles noch völlig unkompliziert war. Glückliche Zeiten. Jedenfalls hatte es Buchstabensuppen bislang noch nie gegeben, und dass er sie jetzt gekocht hatte, musste etwas bedeuten.
Er drehte die Suppe mit dem Löffel so schnell, dass ein Wirbel in der Mitte der Tasse hinabstach und die Buchstaben von der Fliehkraft gegen die Keramik gedrückt wurden.
Ein A blieb hängen, ein N, noch ein N und wieder ein A.
Wie von Zauberhand waren sie aus der Brühe herausgewirbelt worden und klebten jetzt als Name an der Innenwand, während alle anderen Buchstaben weiter herumstrudelten. Er las ihren Namen, dann schwappte er ein wenig Suppe gegen die Buchstaben: Sie wurden fortgerissen. Und doch glaubte er, sie weiterhin zu sehen, vier Buchstaben, die leuchtender waren als alle anderen, die nicht untergingen und immer lesbar waren: das Palindrom. Der ordentliche Name.
Albert schob sein Tablett von sich und starrte nach draußen: ein scheußlicher Wintereinbruch, nachdem die letzten Tage schon auf Frühling hatten hoffen lassen, auch wenn die Nächte noch eisig waren. Aber jetzt klebten dicke Schneeflocken auf den Sträuchern, während die Böden nass waren, weil nichts liegenblieb. Das war so deprimierend, dass er froh war, in seinem Amt zu sein. Und doch spürte er eine eigenartige Neigung, hinauszugehen, nicht in die Stadt, sondern weit weg, nur um zu sehen, ob es dort vielleicht schöner war. Ein seltsames Fernweh packte ihn, das ganz neu für ihn war – und nicht unangenehm.
Der Nachmittag war ruhig verlaufen, wenig Publikum, simple Anträge. Er starrte auf Annas Bild und fand, wenn er seinen Frieden wiederhaben wollte, musste er etwas tun. Also stand er auf, hängte es ab und stellte es umgedreht gegen die Wand. In den nächsten Tagen musste er einen Platz im Amt dafür finden, wo niemand es fand – nicht einmal er selbst.
Um 16.00 Uhr verließ er sein Büro und ging von allen unbeobachtet die Treppen hinab in den Keller. Im Archiv verschwand er eilig im Gewirr der Gänge und erreichte die feuerfeste Tür, auf der TECHNIK stand.
Alles sah aus wie immer: das hochgestellte Klappbett. Die Spinde. Die Regale mit Büchern der Behörde. Das kleine Waschbecken mit dem Spiegel und dem Handtuchhalter. Zwei Stühle. Ein Tisch. Ein Fernseher.
Das war sein Zuhause.
Es ist grau, dachte Albert, ganz grau. Wieso ist es nur so grau?
Er band sich die Krawatte ab und hängte sie zusammen mit seinem Jackett in einen der Spinde. Dann nahm er sich aus einem anderen Spind eine Packung Schogetten, legte die Schokostückchen schön nebeneinander auf den Tisch und schaltete den Fernseher ein.
Der Vorspann lief schon!
Legenden der Leidenschaften . Die erste Schogette verschwand in seinem Mund und breitete sich süß und schmelzig aus. Und da war sie schon: Flora. Der Geist, den jeder sah und niemand wahrnahm.
Langweilig.
Später zog er seine Schuhe aus, stieg in gemütliche Pantoffeln und zog sich eine kuschelige Hausjacke über. In einer Ecke stand ein halbvoller Wäschekorb, auf dem Tisch lag noch die Zeitung vom vorherigen Tag. Er verließ sein Zimmer, lauschte an der Tür noch einmal in das Archiv hinein, aber alles war ruhig. Nach ein paar Metern die zweite feuerfeste Tür, die nur mit einem kleinen Hochspannungsschildchen versehen war. Er schloss sie auf und befüllte die Waschmaschine. Während sie lief, saß er auf einem Hocker vor dem Bullauge und las die Zeitung.
Langweilig.
Noch später stand er wieder in seinem Zimmer und bügelte Wäsche, was das Langweiligste überhaupt war. Und er tat es so unkonzentriert, dass er mehr Falten rein- als rausbügelte, bis er plötzlich Schritte hörte. Er hob das Bügeleisen hoch und rührte sich nicht mehr. Nicht einmal zu atmen traute er sich.
War da etwas?
Er starrte gegen die Tür, lauschte, aber alles war ruhig. Es kam schon mal vor, dass ein Beamter auch nach Dienstschluss im Archiv etwas suchte, aber tatsächlich gab es mehr Marienerscheinungen als Archivläufer nach Feierabend.
Er atmete ganz leise aus. Entspannte seine Schultermuskeln, die langsam zu krampfen begonnen hatten. Mittlerweile war er sich nicht einmal sicher, ob er die Schritte wirklich gehört hatte, denn seit Minuten war es totenstill.
Da klopfte es leise an die Tür.
Albert
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