Das Glücksbüro
sein schien, und wischte sich Tränen aus dem Augenwinkel. Er wollte etwas sagen, aber seine Mundwinkel zuckten so tief nach unten, dass er lieber abbrach.
Für Albert war es, als hätte er plötzlich einen kleinen Jungen vor sich, dem man viel zu viel zugemutet hatte, der unter der Last fast zerbrochen wäre und bei dem niemand je auf die Idee gekommen war, dass er Hilfe brauchen könnte. Genauso wenig, wie Mike sie eingefordert hatte, aus Furcht, das Bild von sich selbst zu zerstören.
Für einen Moment konnte Albert verstehen, warum so viele Beamtinnen verrückt nach ihm waren: Sie sahen nicht nur den Beau aus VII.8 , sondern möglicherweise auch den Jungen, der sich für eine Frau aufopfern konnte. Ohne zu ahnen, dass sie selbst niemals diese Frau sein würden.
Mike stand auf, reichte Albert die Hand und sagte rau: »Ich danke Ihnen, Herr Glück. Wirklich. Danke.«
Albert erhob sich ebenfalls: »Schon gut, dafür bin ich ja da.«
An der Tür drehte sich Mike noch einmal um: »Und ich dachte immer, Sie wären so ein verstaubter Stempeldrücker.«
Albert nickte.
Dann antwortete er: »Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen.«
39.
Das sehr Unangenehme an sehr ruhigen Tagen war stets, dass sie niemals zu Ende gehen wollten. Was Albert früher nie gestört hatte, ließ ihn jetzt ungeduldig mit den Fingern auf seinem Schreibtisch herumtrommeln: Er freute sich auf den Feierabend und starrte auf die Uhr, die ihn mit provozierend langsamen Zeigerumläufen zu verhöhnen schien. Ein Tag wie einer aus den letzten fünfunddreißig Jahren und doch war alles anders, denn zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine Verabredung.
In Gedanken ging Albert die Momente der ersten Begegnung bis hin zur Verabschiedung durch und fragte sich unentwegt, was er eigentlich zu tun und zu lassen hatte. Gab es bei einer Verabredung Zielvorgaben? Wie in einem Amt? Gab es während des Zusammentreffens Wendemarken, die man erreichen musste, um erfolgreich zu sein? Und was bedeutete: erfolgreich sein? Für jemanden wie Mike war das klar definiert, aber was war mit ihm? Was erhoffte er sich eigentlich?
Albert nahm ein Blatt Papier und versuchte, sein Treffen mit Anna zu ordnen. Vielleicht konnte man ein schönes Diagramm zeichnen, denn Albert liebte Diagramme, weil sie komplexe Vorgänge in Bilder verwandeln konnten. Eine Kurve, eine Gerade, eine Welle – ein Diagramm sagte mehr als tausend Worte. Es verriet, wie etwas funktionierte oder sich verhielt.
Diagramme konnten alles beschreiben.
Sogar menschliches Verhalten. Es gab unzählige, die sich damit beschäftigten: Emotionen als Parabeln zwischen x und y. Aber wie definierte man die Unbekannten x und y: Zeit und Zuneigung? Aussage und Verständnis? Attraktion und Alkohol?
Albert bastelte an seinen Diagrammen, nur um festzustellen, dass Diagramme nachträglich nützlich, bei zukünftigen Ereignissen hingegen untauglich waren. Es sei denn, es hätte Erfahrungswerte für Künstlerinnen gegeben, die Anna Sugus hießen.
Er zerknüllte das Papier und sah auf die Uhr: Neun Minuten waren vergangen. Albert seufzte, am Ende des Tages würde er mehrere tausend Jahre alt sein. Und tot.
Aber auch dieser Arbeitstag ging pünktlich um vier Uhr nachmittags zu Ende, und Albert wäre am liebsten im Stil eines Hungerläufers durch die Menge gehuscht, aber er zwang sich zu Ruhe und unauffälligem Verhalten. Unbemerkt erreichte er das Archiv und schloss die Tür hinter sich. Endlich! Jetzt konnte er sich in aller Ruhe vorbereiten.
Hygiene war wichtig.
Er zog sich komplett aus und wusch sich ausgiebig mit Waschlappen und Seife vor dem Waschbecken mit dem kleinen Spiegel. Dann waren die Haare an der Reihe. Die Zähne. Und die Zehennägel. Frische Unterwäsche verstand sich von selbst, doch dann wurde es schwierig: Was sollte er nur anziehen?
Er nahm einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und band sich Annas bunte Krawatte um, nur um festzustellen, dass sie nicht zu ihm passte. Er war kein Bunte-Krawatten-Typ, so löste er sie wieder und legte eine andere an, nämlich die, die er sonst auch trug: anthrazit. So stand er vor dem Spiegel und prüfte sein Aussehen genau. Und je länger er hineinsah, desto unzufriedener wurde er: Das war noch nicht perfekt.
Er zog Anzug und Hemd aus, ging zu seinem Schrank, holte einen zweiten grauen Anzug und ein zweites weißes Hemd heraus, band die Krawatte, stellte sich vor den Spiegel und prüfte sich wieder. Auch hier war er noch nicht ganz zufrieden,
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