Das Glücksbüro
verkrampfte sich sofort wieder. Das war kein Irrtum. Da stand jemand vor der Tür. Nach fast fünfunddreißig Jahren hatte ihn offenbar jemand gefunden.
Der Traum vom Amt war ausgeträumt.
Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fassen, dann schaltete er das Bügeleisen aus, kontrollierte sein Äußeres und streckte den Rücken durch: Er würde mit Anstand aufgeben. Den Aufruhr im Amt mochte er sich gar nicht vorstellen: Alle würden mit dem Finger auf ihn zeigen. Alle hätten ja schon immer gewusst, dass er ein komischer Kauz war. Alle würden beteuern, dass es ihnen ein Rätsel war, wie Albert Glück es hatte schaffen können, sie an der Nase herumzuführen. Aber keiner würde zugeben, dass Albert ihnen total gleichgültig war.
Vorsichtig öffnete er die Tür – Anna.
Die Überraschung hätte kaum größer sein können, und für einen Moment glaubte Albert wieder einer Halluzination aufzusitzen, aber nach ein paar Augenblicken stand sie immer noch da und lächelte.
»Frau Sugus!«, rief er geschockt.
Er sah über ihre Schultern hinweg ins Archiv, in der Furcht, dass dort noch jemand sein könnte. Doch Anna war allein da und schaute ihn an.
»Wie …?«
Albert hatte vergessen, was er fragen wollte, dabei war die Frage doch offensichtlich, denn noch hatte sie nicht erklärt, wie sie ihn eigentlich gefunden hatte. Sie antwortete nicht, sondern betrat einfach das Zimmer, sah sich um und nahm schmunzelnd zur Kenntnis, dass er hier ganz offensichtlich wohnte: Albert, der Künstler.
Der Geist, den jeder sah, aber niemand wahrnahm, der sie alle beobachtet hatte, ohne selbst gesehen zu werden. Dabei wäre das nicht schwer gewesen: Man musste ihm nur vorsichtig in den Keller folgen, warten, bis niemand mehr da war, der einen hätte stören können, und dann einfach ein wenig suchen.
Sie wandte sich ihm zu, legte ihre Hand auf seine Brust.
Albert war mittlerweile ganz bleich vor Schreck: »Wie …?«
Doch bevor er mehr sagen konnte, trat sie an ihn heran und statt einer Antwort gab sie ihm einen Kuss. Sie drängte ihn gegen die Wand neben dem Bett und küsste ihn leidenschaftlich. Albert war überrumpelt, verwirrt, entzückt!
Sag Nein, wenn du kannst!
Ja! Ja!
Was war denn das nur für ein Unsinn in Legenden der Leidenschaften ? Wie konnte man Nein sagen zu jemandem, der einen glücklich machte? Der einen erfüllte und mit einem einzigen Kuss das Tor zu einer neuen Welt aufstieß.
Sie sanken auf sein Klappbett.
Anna löschte das Licht.
44.
Sie schlief.
Wie konnte sie schlafen? Wie konnte überhaupt jemand schlafen? Albert hatte das Gefühl, nie wieder schlafen zu können. Alles schien so fremd zu sein. In fast fünfunddreißig Jahren war er stets alleine gewesen, um 22.00 Uhr ins Bett gegangen und selten vor der Zeit aufgewacht. Und wenn, dann war alles totenstill in seinem Zimmer gewesen.
Aber jetzt war da ihr Atem.
Er hörte ihre ruhigen, tiefen Züge in der Nacht und fragte sich, ob sie gerade träumte. Er saß auf einem der beiden Stühle, wagte nicht, Licht zu machen, und lauschte. Mit reichlich Verspätung hatte Albert kennengelernt, was andere schon seit ihrer Jugend wussten, aber es war anders, als er es sich vorgestellt hatte. Der Akt an sich war ihm seltsam vorgekommen, irgendwie unspektakulär, gemessen an den Erwartungen, die durch das Gerede der Mitteilsamen befeuert wurden.
Aber diese Nähe!
Die innigen Umarmungen, die warme Haut und die sanften Worte. Das war schier unglaublich, und Albert bedauerte es, die Erfahrung nicht früher gemacht zu haben. Und doch wäre es nicht mit Anna gewesen – und ohne sie fehlte die Magie!
Leise stand er auf und verließ sein Zimmer.
Auch das hatte er noch nie getan: mitten in der Nacht im Archiv herumzuspazieren. Es brannten nur wenige Notlampen, sodass sich die Regale schemenhaft auftürmten und dunkle Gänge säumten, die wie die engen Gässchen einer mittelalterlichen Stadt wirkten. Er war wie der Nachtwächter, der über die schlafenden Vorgänge wachte, und blickte er an den Ordnern und Mappen hinauf, so schien es, als stiegen dort Paragrafen wie Luftbläschen auf.
Es war still und feierlich, und sein Herz war ganz erfüllt von Liebe.
Ein Stockwerk höher betrat er das Foyer, bemerkte den Geruch frischer Farbe und hörte das Knistern von Plane unter seinen Füßen. Sie hatten tatsächlich mit der Arbeit begonnen, wenn auch nur sehr zaghaft, aber immerhin. Die Arbeitsutensilien waren säuberlich in eine Ecke geräumt, dazu gestapelte
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