Das Gluehende Grab
würde sie direkt auf
die Krankenstation kommen und müsste lange, lange dort
bleiben.
Adolf legte
den Hörer auf und zerbrach sich den Kopf über diese
merkwürdige Krankheit seiner Tochter. Er begriff
überhaupt nichts mehr. Das Mädchen war nie dick gewesen;
bevor sie krank wurde, hatte sie noch etwas Babyspeck, den niemand
bemerkte. Jetzt war sie ein laufendes Skelett, das sich weigerte zu
essen. Tinnas Mutter war am Telefon völlig hysterisch gewesen
und hatte behauptet, das Mädchen sei todkrank. Das konnte er
nicht so richtig glauben – er wusste, dass sie am Ende so
großen Hunger bekommen würde, dass sie gezwungen
wäre, sich zu ernähren. Er erinnerte sich zwar dunkel an
eine Schlagzeile in einer Klatschzeitung {164 }über ein
berühmtes Model, das an Magersucht gestorben war, aber das war
schließlich etwas ganz anderes.
Adolf stand
vom Sofa auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu
holen, griff aber ins Leere. Er fand nur ein kleines Glas mit
Instantkaffee, das vor ein paar Monaten abgelaufen war. Dennoch
kochte er sich eine große Kanne von der Brühe und trank
sie in Rekordgeschwindigkeit, schwarz und ohne Zucker. Es konnte
nichts schaden, bei dem Gespräch mit seiner Anwältin
hellwach zu sein. Nachdem er seinen Job verloren hatte,
kümmerte sich Adolf kaum noch um den Haushalt. Weil er so viel
Zeit hatte, schob er die Dinge endlos vor sich her und geriet am
Ende unter Zeitdruck. Er schüttelte sich, damit das Koffein
schneller ins Blut ging. Er wusste nicht mehr, wer ihm das
empfohlen hatte, aber es schien zu wirken. Dann wählte er die
Nummer seiner Anwältin.
»Wusstest
du, dass die Krankenschwester, die mich treffen wollte, tot
ist?«, war das Erste, was die Frau ihn nach der
Begrüßung fragte.
»Nein«,
log Adolf. Er hatte vor ein paar Tagen die Todesanzeige gesehen und
sich sehr gefreut. »Ist das von
Bedeutung?«
Die
Anwältin räusperte sich. »Das habe ich gehofft, ja.
Ich bin davon ausgegangen, dass sie Informationen hat, die deine
Position stärken. Glaub mir, die könntest du
brauchen.«
»Ich hab
das verdammte Mädchen nicht
vergewaltigt.«
»Das
brauchst du mir nicht nochmal zu erzählen«, sagte die
Anwältin mit müder Stimme. »Die Aussage von dieser
Alda wäre sehr wichtig für dich gewesen. Deine Position
ist ziemlich schlecht.«
»Aber es
ist doch völliger Quatsch, nach über vierundzwanzig
Stunden eine Vergewaltigung anzuzeigen! Wenn ich sie wirklich
vergewaltigt hätte, wäre sie doch direkt zur Polizei oder
ins Krankenhaus gegangen, anstatt nach
Hause.«
»Das
stimmt auf gewisse Weise schon, aber es ist auch nicht absolut
ungewöhnlich. Du weißt ja, dass sie Schmerzen und
unerklärliche {165 }Blutungen hatte.« Adolf hatte keine
Lust, dazu etwas zu sagen, und schwieg. »Aber das ...
weißt du ja alles.« Als er wieder nichts entgegnete,
sprach die Anwältin weiter: »Diese Alda hat mir am
Telefon gesagt, dass sie mit dir reden wollte, bevor sie mich
trifft. Ich hab versucht, sie davon abzubringen, aber sie ist
hartnäckig geblieben. Hat sie dich kontaktiert?«
»Nein«,
log Adolf erneut. »Hat sie nicht.«
»Schade«,
sagte die Anwältin. »Bist du dir ganz sicher?«
Ihrer Stimme war eindeutig anzumerken, dass sie ihm nicht glaubte.
»Es ist nun mal so, dass Alda das Mädchen in der
Notaufnahme betreut hat. Daher wäre ihre Meinung
außerordentlich wichtig gewesen. Der Krankenhausbericht ist
sehr negativ für dich.«
Adolf wusste
das alles. »Alda war nicht hier, hab ich gesagt.«
»Du hast gesagt, sie hätte dich nicht kontaktiert, also
was jetzt? Wenn dir plötzlich doch noch ein Telefonat oder ein
Besuch einfällt, dann sag mir
Bescheid.«
Adolf
hörte überhaupt nicht zu. »So was hat nie
stattgefunden.« Er zögerte einen Moment. »Mir
geht’s im Moment nicht so gut. Meine Tochter ist krank und
musste ins Krankenhaus. Sie schwebt in Lebensgefahr.« Die
Stille am anderen Ende der Leitung zeigte ihm, dass dies den
gewünschten Effekt bei der Anwältin auslöste, die
normalerweise eiskalt war. »Aber sie erholt sich bestimmt
wieder. Vielleicht kann sie als Zeugin aussagen
...«
19
FREITAG
20. JULI 2007
Die
Unwetterwolken von gestern waren verschwunden, und stattdessen
zogen sich dünne Schleier über den knallblauen Himmel
– als hätte sich Gott eine Zigarre angezündet und
den Rauch Richtung Island geblasen. Dóra saß auf der
Terrasse und genoss den Morgen. Vor ihr auf dem Tisch raschelte das
Morgunblað ið im
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