Das Gluehende Grab
ausgebrochen und Tinna in ihrem Zimmer verschwunden.
Mama würde sie nie verstehen; es war zwecklos, ihr zu
erklären, wie sie sich fühlte. Sie sehnte sich nach dem
Essen auf dem Bildschirm, sehnte sich furchtbar danach. Aber sie
widerstand der Versuchung, denn es ging ihr besser, wenn sie sich
die Leckereien verbot.
Der
Staubsauger wurde wieder eingeschaltet, und Tinna hielt sich die
Ohren zu. Das Gerät war uralt. Tinna überlegte, wie lange
ihre Mutter noch brauchen würde. Nach dem Staubsaugen wischte
sie immer den Fußboden, und dann würde sie einkaufen
gehen. Sie hatte Tinna gebeten mitzukommen. Daraus würde jetzt
nichts mehr, und Tinna war heilfroh darüber. Sie konnte die
Zeit nutzen, um ausgiebig zu duschen und anschließend die
Wasserspuren zu beseitigen. Mama durfte auf keinen Fall wissen,
dass sie schon wieder geduscht hatte, denn dann würde sie sie
womöglich wieder ins Krankenhaus bringen. Mama wusste
nämlich inzwischen, dass Tinna duschte, um Kalorien
abzuwaschen. Je öfter sie das tat, desto mehr Kalorien wurde
sie los. Sie spürte, wie ihr Bedürfnis, sich zu
schrubben, stärker wurde, zumal sich das ekelhafte
Getränk vom Arzt noch in ihrem Magen befand. Am liebsten
hätte sie gekotzt.
Tinna schloss
die Augen und presste die Hände auf die Ohren. Trotz des
Staubsaugerbrummens, das immer noch zu ihr drang, fühlte sie
sich so, als sei sie gar nicht da. Sie war unsichtbar und niemand
würde sie weiter mit Essen traktieren. Niemand verstand sie,
weder Mama noch die Ärzte. Am erträglichsten war es noch
mit Papa. Er sagte zwar manchmal, sie sei zu dünn, aber er
versuchte nicht, sie mit Essen vollzustopfen. Wenn Tinna bei ihm
war, konnte sie selbst entscheiden, wie viel sie aß. Sie war
schon oft ein ganzes Wochenende bei ihm gewesen, ohne irgendetwas
zu sich zu nehmen. Er merkte es einfach nicht. Mama war da viel
aufmerksamer, und nach einem dieser Wochenenden hatte ihr jemand
von einer Beratungsstelle empfohlen, Tinna nicht mehr bei ihrem
Vater übernachten zu lassen. Jetzt durfte sie nur noch
höchstens vier Stunden bei ihm sein.
Die Gedanken
schwirrten durch Tinnas Kopf. Die Frau zu Besuch bei Papa. Das Haus
der Frau. Der Gast, der sich hinausschlich. Der Zettel. Die Frau,
die unter einem weißen Laken in den Krankenwagen getragen
wurde. Die Frau, die ihr hätte helfen können. Die Frau,
die Gott ihr geschickt hatte, um sie dünn zu machen. Die Frau,
die andere schön machte und Tinna geliebt hätte, so wie
sie war. Die Frau, die sie verstanden hätte. Tinna versuchte,
nicht mehr daran zu denken. Sie musste diese Gedanken verbannen.
Eins, zwei, drei ... Sie konzentrierte sich aufs Zählen und
merkte gar nicht, ob sie laut oder leise zählte. Als sie bei
vierunddreißig angekommen war, wurde sie an der Schulter
gepackt und geschüttelt. Sie öffnete die Augen, hielt
sich aber weiter die Ohren zu.
»Komm
Tinna«, sagte ihre Mutter. Tinna lockerte den Druck auf ihre
Ohren ein wenig. »Du kommst jetzt mit. Ich fahre dich ins
Krankenhaus.«
Tinna
schüttelte den Kopf und presste wieder die Augen zu. Sie
spürte, wie Mama ihre knochigen Finger von den Ohren wegzog.
»Steh auf, mein Schatz.«
Tinna
überlegte fieberhaft, ob sie ihre Mutter dazu bringen {163
}könnte, ihre Meinung zu ändern. Das passierte nicht zum
ersten Mal. Vielleicht würde Mama sie zu Hause behalten, wenn
sie ihr erzählte, was zwischen Papa und der Frau vorgefallen
war, wenn sie ihr erzählte, dass die Frau gestorben war und
Papa womöglich etwas damit zu tun hatte. Vielleicht kannte
Papa den Besucher, der sich aus dem Haus der Frau geschlichen
hatte. Vielleicht konnte man das mit Hilfe des Zettels
herausfinden. Er war aus dem Wagen geweht. Mama konnte Papa nicht
ausstehen und würde bestimmt die ganze Geschichte hören
wollen. Aber Tinna sagte nichts. Mama würde das Geheimnis
nämlich nicht für sich behalten. Es war
vernünftiger, aufzustehen und mit zum Auto zu gehen. Sie
könnte versuchen, so zu tun, als sei alles in Ordnung; dann
würde der Arzt Mama vielleicht dafür ausschimpfen, dass
sie seine Zeit vergeudete. Tinna richtete sich auf und schwang die
Beine über die Bettkante. Mama weinte.
»Guck
dir nur deine Beine an, Kind.« Sie schluckte, stand auf und
ging aus dem Zimmer. »Ich hole den Autoschlüssel. Zieh
deine Jacke an. Es regnet.« Ihre Stimme klang zerbrechlich,
und sie zog die Nase hoch.
Tinna stand
vorsichtig auf. Ihr wurde schwindelig. Sie durfte unter keinen
Umständen in Ohnmacht fallen. Dann
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