Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gluehende Grab

Das Gluehende Grab

Titel: Das Gluehende Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardottir
Vom Netzwerk:
und sie
würde anfangen zu weinen oder zu schreien. Tinna hatte ihr
erklärt, ihr sei das egal, sie finde Spritzen nicht schlimm,
nur seltsam. Die Schwester hatte ihr nicht geglaubt, und als sie
zum dritten Mal neben die Vene gepiekst hatte, hatte sie noch
lauter und noch schneller geredet. Tinna hatte ihr kaum folgen
können, obwohl der Redeschwall auf Isländisch
war. 
    »Okay
now«, sagte die ausländische Krankenschwester und
tätschelte vorsichtig die Decke, unter der Tinna lag.
»Try to get some sleep.«
    Tinna
antwortete nicht, sondern starrte die Frau nur an. Sie wusste, dass
»sleep« schlafen bedeutete, oder hatte die Frau
vielleicht »sheep« gesagt? Wieso Schafe? Tinna war sich
nicht sicher. Vielleicht wollte die Frau, dass sie Schäfchen
zählte. Das Mädchen schloss die Augen und probierte es.
Eins, zwei, drei Schafe {231 }hüpften in ihrer Phantasie
über einen grünen Zaun. Die Zimmertür öffnete
und schloss sich mit einem dumpfen Klacken. Tinna wollte das
Hüpfen der Schafe nicht unterbrechen, indem sie die Augen
öffnete. Sie konzentrierte sich wieder auf den Zaun und die
Schäfchen. Es funktionierte nicht gut. Die Viecher waren fett
und widerwärtig, und das vierte schaffte es nicht zu springen.
Es stand röchelnd und japsend vor dem Zaun. Dann wurde es
immer fetter, sein Kopf verschwand in dem weißen Körper,
der in die Breite gezerrt wurde, bis schließlich ein lauter
Knall ertönte und das Schaf platzte. Blut und Eingeweide
spritzten in alle Richtungen. Tinna öffnete schnell die Augen.
Sie war allein im Zimmer. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig.
So etwas erwartete sie, wenn sie sich nicht aus dem Staub machte.
Sie würde immer fetter werden, bis sie platzte. Tinna drehte
den Kopf und sah den durchsichtigen Beutel, der an einem
Ständer neben dem Bett hing. Sie beobachtete, wie die
Flüssigkeit in die Dosiervorrichtung tropfte, die regulierte,
wie viel in ihre Adern floss.
    Als Tinna den
ersten klaren Gedanke fasste, stockte ihr der Atem. Sie spürte
einen Schmerz an der Einstichstelle, so als sei die Nadel kochend
heiß, und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Die Nadel war
heiß, weil Kalorien durch sie hindurchströmten. Tinna
spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. War
es gut zu weinen? Sollte sie den Notruf
auslösen?
    Ihr Daumen lag
auf dem kühlen Schalter. Tinna wollte gerade drücken, als
sie innehielt. Was sollte sie der ausländischen Schwester
sagen? Sie konnte gerade mal guten Tag auf Englisch sagen, aber
bestimmt nicht erklären, dass ihr Körper anschwellen und
platzen und ihre Eingeweide durchs Krankenzimmer fliegen
würden, wenn die Nadel mit der Flüssigkeit nicht sofort
entfernt würde. Die Schwester konnte ihr nicht helfen. Niemand
konnte ihr helfen. Was sollte sie tun?
    Tinna musterte
das Pflaster über der Nadel. Eine Ecke hatte sich leicht
gelöst – vorsichtig zog sie an der losen Ecke und
lauschte fasziniert dem Geräusch des Pflasters, das sich von
der {232 }Haut löste. Langsam zog sie die Nadel heraus. Als
die Nadel aus der Haut glitt, gab es ein leises Schmatzen und ein
saugendes Geräusch, und einen kurzen Moment lang war ein
schwarzes Löchlein in ihrer Hand zu sehen, aus dem dann
winzige Bluttropfen quollen und über ihr Handgelenk rannen.
Sie schleuderte die Nadel und das Plastikteil von sich, aber
anstatt durchs Zimmer zu sausen, wie sie es sich vorgestellt hatte,
fielen sie wegen des Schlauchs direkt neben dem Bett auf den
Fußboden. Tinna war sehr enttäuscht darüber, wusste
aber nicht genau, warum.
    Sie schwang
die Beine über die Bettkante, blieb einen Moment sitzen und
wartete, bis das altbekannte Schwindelgefühl vorüberging.
Ihr Magen knurrte, und sie spürte, dass sie unglaublich
hungrig war. Tinna stand auf, um den Gedanken an Essen, der immer
stärker wurde, zu verdrängen. Sie wanderte im Zimmer
umher, schaute aus dem Fenster, dann in den Wandschrank, wo ihr
Anorak und ihre anderen Klamotten auf Bügeln hingen.
Anschließend gab es nichts anderes mehr zu tun, als unters
Bett oder in den Wasserhahn zu spähen. Der Sinn bestand darin,
dass Tinna sich dabei bückte und ihren Magen einquetschte, was
das Hungergefühl verstärkte.
    Sie durfte
nichts essen. Sonst würde sie platzen wie das Schaf. Warum
kapierte das niemand? Auf einmal fühlte sich Tinna schwerelos.
Ein Gefühl von Gleichgültigkeit überkam sie, das
Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben und sich keine Sorgen
mehr machen zu müssen. Die Kalorien, die sie bereits zu

Weitere Kostenlose Bücher