Das Götter-Opfer
alles im Meer der Vergangenheit. Wenn du mich fragst, wer meine heutigen Eltern sind und ob sie noch leben, dann weiß ich keine Antwort darauf. Ich befinde mich in einem Zustand, wie ich ihn nie kannte. Hier laufen zwei Zeiten zusammen. Es ist irgendwie schrecklich. Ich existiere, aber ich lebe nicht. Kannst du das verstehen?«
»Sehr gut sogar.«
Sie ließ sich gegen mich fallen. »Ich bin froh, daß ich dich getroffen habe. Da hat es das Schicksal gut mit mir gemeint.«
»Dem wurde allerdings ein wenig nachgeholfen. Ich habe dir doch von der Anruferin erzählt. So sehr ich mir auch den Kopf zerbrochen habe, ich bin noch immer nicht darauf gekommen, wer da mit mir Kontakt aufgenommen hat. Aber diese Frau kannte dich. Sie wußte auch von deinen goldenen Augen und davon, daß wir uns treffen würden.«
»Dann ist sie so etwas wie eine Schicksalsgöttin.«
»Das kann sein.«
»Oder Seths Todfeind, sein eigener Bruder Osiris, kann Schicksal gespielt haben.«
Ich schwieg, weil ich gedanklich nicht so stark abgelenkt werden wollte. Ich mußte mich mehr auf die Dinge konzentrieren, die mir bekannt waren.
Es war zwar wenig genug, aber es hatte bisher immer geholfen, daß ich ein Bild Stück für Stück zusammengesetzt hatte, um schließlich ein Ganzes zu erhalten. So würde es auch hier sein. Bisher kannte ich nur Fragmente, aber im Laufe der Zeit würde sich schon das Gesamtbild ergeben, dessen war ich mir sicher.
Wir fuhren bereits durch Mayfair. In diesem Teil Londons lebte Sarah Goldwyn. Es war noch keine Nacht, aber der Tag war auch nicht richtig hell geworden. Die Wolkendecke hatte der Wind nicht aufreißen können, nach wie vor sorgte sie für eine Dunkelheit, die schon der eines Abends gleichkam.
Sarah wohnte in einer ruhigen Straße, in der es noch alten Baumbestand gab. Die Bäume blieben auch, denn hier dachte niemand daran, alte Häuser abzureißen, um Platz für neue Apartmentbauten zu schaffen.
Selima schaute mal aus dem linken und mal aus dem rechten Fenster. Dadurch wirkte sie wie eine Touristin, die die Stadt zum erstenmal sah.
»Hier bin ich noch nie gewesen«, sagte sie auch.
»Vielleicht.«
»Aber es gefällt mir.«
»Und du kannst dich auch nicht daran erinnern, wo du bisher gewohnt hast?«
»Nein, ich weiß nur, daß ich mehr als viertausend Jahre alt bin. Damit mußt du dich abfinden.« Sie bedachte mich mit einem leicht traurigen Blick, der mich allerdings zu einem Lächeln zwang.
»Keine Sorge, das habe ich schon längst.«
Wir fuhren noch wenige Sekunden, dann konnte der Fahrer anhalten. In allen Häusern brannten Lichter, und auch die Scheiben in Sarah Goldwyns Haus waren erhellt.
Ich ließ Selima aussteigen, die neben dem Wagen stehenblieb und über den Vorgarten hinwegschaute, während ich den Fahrer entlohnte. Gemeinsam gingen wir dann auf die Haustür zu, die geöffnet wurde, bevor wir das Haus erreichten. Es war fast immer so, wenn ich die alte Dame besuchte. Sie konnte es dann kaum erwarten und stand immer schon am Fenster oder in der offenen Tür wie jetzt.
Hinter ihr zeichnete sich Jane Collins ab. Das Licht der Flurleuchte breitete sich aus und flutete gegen ihr Haar. Auch sie lächelte, allerdings etwas verkrampft.
Selima ging neben mir und hatte sich bei mir eingehakt. Sie umklammerte meinen Arm sogar recht fest, als wollte sie durch diese Geste zeigen, wie sehr sie den augenblicklichen Zustand mochte und ihn auch ja behalten wollte. Für sie mußte es schwer sein, zwischen zwei Existenzen zu pendeln. Sie wußte nie genau, wohin sie gehörte. Eigentlich in die Gegenwart, aber die Vergangenheit griff mit langen Armen nach ihr, um sie zu umfangen.
Wir blieben stehen. Selima schaute Lady Sarah etwas zurückhaltend an, doch meine alte Freundin schaffte es, durch ihre natürliche Herzlichkeit den Bann zu brechen.
»Seien Sie uns willkommen, Miß…«
»Ich heiße Selima.«
»Ein schöner Name. Bitte, treten Sie ein.«
Ich schob Selima vor und ließ sie dann los. Lady Sarah umarmte mich, wobei sie mir eine Frage ins Ohr flüsterte. »Ist diese junge Frau gefährlich?«
»Ungewöhnlich.«
»Aha.«
Auch Jane begrüßte Selima. Sie drückte ihr beide Hände und hatte auch ihr Mißtrauen verloren, denn das Lächeln auf ihrem Gesicht sah schon echt aus.
Sie half ihr auch aus dem Mantel. Selima trug einen dunkelblauen Pullover mit Rollkragen und eine schlichte schwarze Hose. Etwas scheu schaute sie sich um, wobei Lady Sarah die Initiative übernahm, sich bei ihrem
Weitere Kostenlose Bücher