Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
geregnet. Es war noch früh am Morgen, als die junge Frau sich auf eine zerschlissene Decke hockte und den Kopf gegen eine Hausmauer lehnte. Noch immer nieselte es ein wenig, und am Himmel zogen dicke Wolken herbei. Sie schaute zum Hafen hinüber. Selbst zu dieser frühen Stunde herrschte dort schon reger Betrieb. Der Fischhändler war nicht wiedergekommen, und längst hatte sie die Hoffnung auf ein besseres Leben begraben.
Am vorletzten Sonntag hatte sie zum ersten Mal mit gesenktem Haupt und tief in die Stirn gezogener Haube die aus dem weit geöffneten Portal des Domes strömenden Kirchgänger um eine milde Gabe gebeten. Am darauf folgenden Sonntag dann auf dem Koberg nahe St. Jakobi. Den Armen zu geben, war ein Akt der Nächstenliebe. So warfen nicht wenige der aus der Messe kommenden Männer und Frauen ihr ein, zwei Witten zu, und die junge Frau versprach ihnen, zum Dank drei Vaterunser oder Ave-Maria für sie zu beten. Dabei besaß sie gar keinen Rosenkranz mehr. Aber was sollte es – die Leute waren zufrieden, dass die junge Bettlerin sie in ihre Gebete einschloss.
Heute wollte sie es am Hafen versuchen. Sie zog den Umhang über, den Alheyd ihr geschenkt hatte, und näherte sich einem Schiff, das mindestens zwei Dutzend Schauerleute entluden. Die Rufe der Arbeiter gellten zu ihr herüber. Ein Mann in einem langen, teuren Mantel erteilte Befehle, während ein Jungspund, kaum ausgewachsen, eine Kiste auf dem Rücken herausschleppte, torkelnd unter der Last. Was auch immer sich in den Holzkisten befinden mochte, unzählige Möwen warteten schreiend auf leichte Beute.
Neugierig beobachtete die junge Frau das Treiben, das dem einer Ameisenschar glich. Vor nicht allzu langer Zeit war auch sie einer ehrenwerten Arbeit nachgegangen. Ihre Kleidung war schlicht, aber sauber gewesen. Nur ein einziger Mann hatte sie berühren und ihr Lust bereiten dürfen. Genossen hatte sie seine Liebkosungen, noch mehr jedoch die kleinen, ausgewählten Geschenke, mit denen er ihr seine Gunst bewies. Vorbei, alles vorbei.
Das Knurren zweier Hunde drang zu ihr herüber. Die Tiere kämpften um Abfälle, die jemand auf die Gasse gekippt hatte. Sie stieß sich von der Mauer ab, gegen die sie sich gelehnt hatte, als sie sah, wie eine Gruppe fremdartig gekleideter Männer langsam zu ihr herüberschlenderte. Mühelos setzte sie ihr einstudiertes trauriges Gesicht auf und hielt ihnen mit bittendem Augenaufschlag eine alte Mütze entgegen. Sie wusste, dass ihr fleckiges Kleid um ihren schmal gewordenen Leib schlackerte. Die Haare hatte sie mit einem dunklen Tuch bedeckt, um nicht erkannt zu werden. Ihre ohnehin sehr helle Haut würde den Eindruck von Armut noch verstärken.
Einer der Männer blieb stehen, musterte sie. Er rief ihr in einer unbekannten Sprache ein paar Worte zu und warf eine Münze in den Hut. Zum Dank senkte sie den Kopf und sah ihnen nach, bis sie hinter einer Häuserecke aus ihrem Sichtfeld verschwanden.
Eine Witte! Davon konnte sie sich auf dem Markt ein halbes Dutzend Eier, ein paar Heringe und einen Laib Brot kaufen. Am Himmel trieben dicke Wolken in schneller Folge vorbei. Der Wind bauschte ihren Umhang und brachte den Geruch von Fisch mit sich. Der Magen drehte sich ihr um, denn sie hatte noch nichts gegessen.
Auf einmal stand ein Mann vor ihr. Sie erschrak, denn sie hatte niemanden kommen sehen. Dunkle Haare, im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden, und ein ebenso dunkles Augenpaar, das sich in das ihre senkte. Die besten Jahre schien der Unbekannte bereits hinter sich zu haben, wie ihr seine ergrauten Schläfen zeigten. Stumm und ohne eine Miene zu verziehen, betrachtete er sie von oben bis unten. Ihre Hand zitterte, als sie ihm den Hut entgegenhielt.
»Eine milde Gabe, edler Herr. Ich leide Hunger.«
Sein Mantel roch nach feuchter Wolle. Noch immer sah er ohne ein Wort auf sie herab.
»Nur eine Witte, Herr«, stammelte sie und wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
Er ließ eine Münze in die Mütze fallen. Wieso nur blieb er stehen und hörte nicht auf sie anzustarren? Ein unbestimmtes Gefühl ergriff von ihr Besitz. Ihr Herz pochte, sie wollte fliehen, doch der Fremde versperrte ihr mit seinem kräftigen Körper den Weg.
»Lasst mich in Ruhe. Ihr macht mir Angst!«
»Du bist schmutzig.« Seine Stimme war tief und rau.
»Ich … ich habe nur dieses eine Kleid.« Hilflos schaute sie sich um. Der Kerl war ihr unheimlich.
»Komm mit«, brummte er und fasste sie am Arm. »Ich tue dir nichts.«
Niemand
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