Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
wurde es Zeit, den Verstand arbeiten zu lassen. In Gedanken ging sie sämtliche Kunden der Goldspinnerei durch. Da tauchte ein grobes Antlitz vor ihrem geistigen Auge auf: der Bader Ludewig Stienberg. Der Mann mit dem dröhnenden Lachen, der trinken konnte wie ein Bauer.
Herr Stienberg würde gewiss nicht zögern, ihnen zu öffnen, denn als Bader waren ihm nächtliche Störungen sicher vertraut. Verflixt, woher sollte sie bloß wissen, wo dieser Mann wohnte? Minna entfuhr ein Stöhnen.
In der Ferne erkannte sie im schwachen Licht der Mondsichel das Rathaus, davor die Trostbrücke, die die Altstadt rund um St. Petri und den Dom mit der gräflichen Neustadt verband. Bei Tage boten hier die Geldwechsler ihre Geschäfte an. Sie blieb stehen und stellte den schmerzenden Fuß auf einen aus dem Pflaster ragenden Stein. Der Rist war angeschwollen, und über der Wunde hatten sich mehrere pralle Blasen gebildet. Als Elisabeth mit einem Husten die Stille durchbrach, fuhr sie zusammen. Glücklicherweise wurde die Kleine nicht wach. Minna wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Es half nichts. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, tiefer in die Stadt hineingehen und darauf vertrauen, einem Nachtwächter oder Frühaufsteher zu begegnen, den sie nach dem Weg fragen konnte.
Was für ein Segen, dass ihre Herrin nicht hatte mit ansehen müssen, wie alles, was die Schimpfs sich mühevoll aufgebaut hatten, zu Asche zerfallen war. Sie schniefte. Was sollte nun aus ihnen werden? Dazu die bange Frage, die ihr wieder und wieder durch den Kopf schoss: Was sollte sie tun, wenn sie den Bader nicht fand oder er nicht daheim war?
Eine Frau kam ihr entgegen. Das schwarze Band an der hellen Mütze verriet, dass es sich um eine Buhlschwester handelte, wie man die Huren in Hamburg nannte. Ein Weib, an das Minna unter anderen Umständen niemals das Wort gerichtet hätte.
»Gott zum Gruße«, sprach sie die Frau an. »Ihr kennt Euch gewiss aus in der Stadt?«
Die Hübschlerin blieb stehen und musterte Minna mit dem Kind auf dem Arm und dem Hund an ihrer Seite. »Was wollt Ihr?«
»Ich bin auf der Suche nach einem Bader. Vielleicht könnt Ihr mir sagen, wo ich ihn finde.«
Das Weib lachte kehlig. »Bader gibt’s viele in Hamburg.«
»Natürlich. Der, den ich meine, heißt Ludewig Stienberg. Ein kräftiger Kerl in den besten Jahren. Vorn fehlen ihm zwei Zähne.«
Die Erinnerung an jenen Tag drängte sich ihr auf, als Stienberg eines Abends zu Besuch gekommen war und genuschelt hatte. Später erzählte er ihnen dann ungerührt, dass er sich die Zähne selbst gezogen habe, da sie ihn schon tagelang gepiesackt hätten. Ihr schauderte allein bei dem Gedanken.
»Ach, der.« Die Frau nickte. »Da seid ihr hier ganz falsch. Der wohnt in der Johannisstrate, ganz am Ende. Wisst Ihr, wo die is?«
Minna verneinte.
»Über die nächste Fleetbrücke und dann immer weiter. Das Einbeck’sche Haus kennt Ihr aber?«
»Ja.«
»Daran vorbei. Von da isses nich mehr weit.«
»Ich danke Euch.«
»Da nich für.« Schon ging die Frau weiter und verschwand um eine Ecke.
Minna setzte sich in Bewegung und überquerte eine schmale Brücke. Gegenüber erkannte sie die Fassade des zweistöckigen Stadtbierhauses. Darunter befand sich der Ratsweinkeller. Als sie in die Johannisstrate einbog und die Gasse hinablief, hämmerte ihr das Herz in der Brust. Elisabeth weinte leise, hob mehrmals die Lider, um im nächsten Moment wieder einzunicken. Die Arme taten Minna vom Tragen weh, und in ihren Fingern kribbelte es unangenehm. Diese Anstrengung war nichts für eine Frau, die nicht mehr die Jüngste war, wahrlich nicht! Ihre müden Knochen und Gelenke sollte sie an einem prasselnden Kaminfeuer wärmen, und nicht durch die finstere Nacht stolpern müssen. Lediglich die Angst um die Kleine ließ ihre Füße weitermarschieren.
Wie es sich für eine anständige Frau gehörte, hegte sie eine Abneigung dagegen, mitten in der Nacht bei einem nahezu fremden alleinstehenden Mann an die Tür zu klopfen und um Einlass zu bitten. Vor der Tür des Baders angekommen, pustete sie sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Der hölzerne Klopfer schlug gegen die Tür.
Elisabeth öffnete die Augen. »Mama?«
»Deine Mutter kommt bald wieder, mein Schatz. Alles wird gut.«
Elisabeth machte jedoch keine Anstalten, sich auf ihre eigenen Füße zu stellen. Bange Momente vergingen. Endlich näherten sich schlurfende Schritte, und ein Mann öffnete gähnend einen Spaltbreit die
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