Das goldene Meer
Schmerzen im Unterbauch, hat mir aber das Versprechen abgenomme n, keinem etwas davon zu sagen. Manchmal drückt er beide Hände auf den Bauch und krümmt sich. Das dauert nur ein paar Sekunden, und dann ist alles wie vorher, als sei nichts gewesen. Muttchen, das kann der Blinddarm sein, aber Julius meint, ich hätte keine Ahnung. Es seien nur Blähungen. Außerdem ist Julius eifersüchtig, auch das noch. Und zwar auf alles, was mit mir in Berührung kommt: Die Kaffeetasse, der Sup penteller, das Besteck, das Wasserglas. Ich glaube sogar, daß er meine Zahnbürste haßt, weil mein Mund sie aufnimmt. Von Personen wollen wir gar nicht reden, Muttchen, wenn Julius schon profane Dinge mit seiner Eifersucht verfolgt. Ob Stellinger freundlich mit mir spricht oder Dr. Starke mich für irgend etwas lobt, sofort stößt Julius wie ein Geier auf mich herab, beginnt zu schreien und zu toben, und das alles endet dann in einem Weinen, das mich jedesmal erschüttert. Wie soll das weitergehen? Wir mögen uns sehr, wir wollen auch zusammenbleiben, wir werden immer gemeinsam auf einem Schiff arbeiten. Aber geht das auf die Dauer gut? Seine Eifersucht ist schon pathologisch. Gestern hat er mir ein T-Shirt zerrissen, nur weil ein Schiffsjunge darauf gedruckt war. Gegen Landschaften und Pflanzen auf T-Shirts hat er nichts, und als ich zu ihm sagte: »Wieso denn nicht? Es heißt ›der Baum‹. Der Baum ist männ lich!«, begann er wieder zu weinen.
Trotzdem bin ich glücklich, daß ich ihn gefunden habe, nach all den bitteren Jahren, die mir fast den Lebensmut zerstört haben, jetzt ist es so, wie ich es mir immer gewünscht habe: Ich bin ein freier Mensch, die Welt liegt offen vor mir, und ich habe einen guten Freund. Liebes, kleines Muttchen, freu Dich mit mir.
Ein ganz großes Ereignis an Bord kann ich Dir nicht brieflich schil dern, das muß ich Dir eines Tages erzählen: Wir haben eine Wunderhei lerin auf dem Schiff. Eine junge Vietnamesin, die Schmerzen wegstrei cheln kann. Muttchen, ich habe sofort an Dich und Tante Franziska ge dacht: Du kannst so wundersam Karten legen und die nahe Zukunft aus ihnen lesen, Tante Franziska war bekannt dafür, daß sie Warzen besprechen konnte. Wo keine Mixtur und kein Höllenstein nutzten, selbst Operationen nicht, weil die Warzen wiederkamen, da half Tante Fran ziskas Besprechen. Nicht eine besprochene Warze bildete sich neu, sie vertrockneten und fielen ab. Die Ärzte hier an Bord stehen sprachlos vor die sem Wunder der Ut, so heißt die Vietnamesin, sie haben keine Erklä rung dafür, sie versuchen, das Phänomen medizinisch-wissenschaftlich anzugehen, welch ein Irrweg! Ich hätte ihnen sagen können, was ich er lebt habe, damals, als die LSD-Welle auch mich erfaßte und ich das Teu felszeug – fünf Tropfen auf ein Stückchen Würfelzucker – einnahm. Da war ich plötzlich in einer anderen Welt mit anderen Farben, die Wiesen waren violett, die Bäume bestanden aus Glas, der Himmel war ein Gewölbe aus Goldorange, und über allem lag eine wunderbare, zärtliche , leise Musik. So habe ich das damals gesehen. Es gibt andere Dimensionen, doch nur wenige Menschen dringen in sie ein und können fremde Kräfte aus ihr mobilisieren. Ut ist eine von ihnen. Aber wenn ich es den Ärzten sagen würde, hielten sie mich für verrückt. Auch Julius lacht über meine Gedanken. Für ihn ist eine gute und zuverlässige Schiffsmaschine das höchste.
Ein Flüchtlingsboot haben wir noch nicht wieder gesichtet. Dafür ei nige Fischtrawler, die aber keine Netze ausgeworfen hatten, sondern sich schnell entfernten, sobald sie uns sahen. Hung, unser Dolmetscher, ist dann immer sehr aufgeregt. »Piraten!« ruft er. »Das sind Piraten!« Wir notieren uns die Bootsnummern, soweit wir sie erkennen können. Stellinger hat einmal vorgeschlagen, so einen Trawler zu verfolgen und zu kapern, um Gewißheit zu haben. Aber da hättest Du mal unseren Kapi tän hören sollen! »Für dieses Schiff bin ich verantwortlich!« hat er ge brüllt. »Und ich führe keinen Krieg gegen Piraten, sondern fische Flüchtlinge auf! Ich weigere mich gegen jede Aktion, die nicht friedlich ist! Mit meinem Schiff wird nicht gerammt und nicht gekapert!«
Trotzdem: Der Name Truc Kim Phong lastet auf uns. Der Piraten könig, von dem niemand Genaues berichten kann, denn wer ihn gesehen hat, muß sterben. Insofern ist die Zeit im Südchinesischen Meer stehen geblieben. Nur hackte man früher die Überfallenen mit Säbeln und Ma cheten in Stücke,
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