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Das goldene Meer

Das goldene Meer

Titel: Das goldene Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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möchte Sie sprechen«, sagte Julia. Sie hob das Buch auf, in dem Xuong gerade gelesen hatte, und das beim Aufspringen heruntergefallen war. Sie las den Titel und blickte Xuong verwundert an. »Wo haben Sie das denn her?«
    »Herr Büchler hat es mir gegeben. Ich fragte, ob an Bord etwas Lesbares sei. Da ist er zu seiner eigenen Bibliothek gegangen.«
    »Und ausgerechnet Goethe haben Sie genommen?«
    »Goethe hat gute Gedanken.« Xuong nahm das Buch aus Julias Hand und drückte es an seine Brust. »Ich bedauere, daß ich ihn nicht auf deutsch lesen kann, nur in der englischen Übersetzung. Ich glaube, da geht vieles verloren von der Kunst der Sprache. Sie lesen auch Goethe?«
    »Kaum.« Julia sah keinen Grund, sich zu schämen. Obwohl ›kaum‹ eine Lüge war – es hätte heißen müssen: nie. Von Goethe hatte sie zuletzt in der Schule und dann noch einmal auf der Schwesternschule etwas gelesen, aber da schon mit der opponierenden Frage, was eine Lernschwester mit Goethe anfangen soll, wenn sie Bettpfannen ausleeren und Schwerkranke waschen muß. Ihr damaliger Chef aber hatte gesagt: »Eine gute Allgemeinbildung kann Ihnen immer und überall nützen. Oder wollen Sie nichts anderes werden als ein Karbolmäuschen?« Und so hatte sie auch in Goethes West-östlichem Diwan lesen müssen.
    »Was lesen Sie denn?« fragte Xuong erstaunt.
    »Ach, das, worüber man gerade bei uns spricht. Vor allem spannend muß es sein. Goethe ist nicht spannend.«
    »Da muß ich leider widersprechen. Ich bitte um Verzeihung.« Xuong machte eine kleine Verbeugung. »Denken Sie an ›Egmont‹.«
    Egmont? Wer ist Egmont? dachte Julia. Für mich ist wichtiger, wo das Kreuzbein sitzt. Sie zog wieder ihren berühmten Flunsch und sagte: »Gehen wir, Xuong. Ut wartet auf Sie. Ich glaube, sie macht sich Sorgen um ihre Kinder.«
    »Und ich mache mir Sorgen um Ut.«
    »Warum?«
    »Sie ist im Hospital. Ist sie krank?«
    »Sie wollte bei uns schlafen.«
    »Schlafen? Am hellen Tag? Sie ist also doch krank.«
    Er weiß von nichts, stellte Julia erstaunt fest. Es ist tatsächlich so, wie Ut erzählt hat: Niemand hat gesehen, wie sie die Schmerzen aus dem Leib nahm und wegwarf. Entweder die anderen schliefen, oder sie ging mit Thuy in einen leeren Lagerraum. Auch Xuong war also ahnungslos.
    »Wir … wir wissen das noch nicht.« Julia zögerte eine klare Antwort hinaus. »Ut war plötzlich sehr müde. Sie konnte kaum noch gehen.«
    »Das muß doch eine Ursache haben.«
    »Sicherlich.«
    »Haben die Ärzte schon eine Vermutung?«
    »Nein. Mit Ut zu sprechen ist mühsam. Über Hung erfahren wir nicht viel von ihr. Vielleicht sagt sie Ihnen mehr.«
    »Ich werde fragen und zuhören«, sagte Xuong und setzte sich in Bewegung. »Vor allem zuhören. Wenn man die Menschen sprechen läßt, erfährt man mehr als durch hundert Fragen. Wir wollen hören, was Ut zu sagen hat.«
    Im Hospital saß Ut wieder im Bett, hatte das Nachthemd ausgezogen und war wieder in ihre alte Kleidung gestiegen. Ihre Augen leuchteten auf, als sie Xuong eintreten sah, und plötzlich war ihr Gesicht wie verjüngt und schön. Julia ging wieder hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Von dem, was jetzt da drinnen gesprochen wurde, verstand sie ja kein Wort.
    »Du hast mich gerufen, Ut?« fragte Xuong und setzte sich auf die Bettkante.
    »Ich habe Angst, Lehrer.« Ihre Stimme war klein und kläglich, und auch die Freude verschwand aus ihren Augen.
    »Angst vor der Krankheit?«
    »Nein, Angst vor dem Tod.«
    »Fühlst du, daß du sterben mußt?«
    »Ich und meine Kinder.«
    »Sie sind auch krank? Soll ich sie holen lassen? Ich spreche mit dem großen Doktor selbst.« Xuong wollte aufspringen, aber Ut klammerte sich an ihm fest. Sie zitterte, wie es Xuong bei einem Menschen noch nie gesehen hatte. Auch in solche Augen hatte er noch nicht geblickt, Augen, die einen lautlosen Schrei ausstießen.
    »Ich … ich bin eine Hexe …«, sagte sie und würgte an den Worten. »Eine Hexe …«
    »Ut, du bist sehr krank.« Xuong legte die Arme um sie und drückte sie wie ein Vater sein Kind an sich. »Ich rufe den Arzt.«
    »Ich bin die Geliebte des Teufels … eine Satanshure … Ich darf nicht weiterleben.«
    »Du wirst eine Beruhigungsspritze bekommen und dann tief schlafen.« Xuong löste ihre Arme von sich und legte sie auf das Bett zurück. »Du bist doch keine Hexe …«
    »Ich bin es, Lehrer, ich bin es. Ich weiß es jetzt … meine Hände haben mich verraten.« Ut begann zu weinen, warf sich herum,

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