Das goldene Meer
schwimmen.
»Da ist sie endlich!« hörte Anneliese Dr. Starkes Stimme aus dem Nebenraum. »Hung, du bist eine Viertelstunde zu spät.«
»Ut wollte nicht, ich mußte sie lange überreden«, antwortete Hungs hohe Stimme. Er log, es war genau umgekehrt, er hatte Ut daran hindern wollen, aber das ahnte niemand. »Ich muß Thuy helfen!« hatte Ut ihn angeschrien. Alle Angst war aus ihr verflogen, sie war wie eine völlig andere Frau. »Und wenn du mich umbringst, ich helfe ihm bis zuletzt!«
Pitz führte Ut in das Röntgenzimmer, wo sich Thuy erneut krümmte und laut röchelte. Nebenan auf dem Monitor sah man deutlich die Magengegend des Kranken und auch noch ein Stück Unterbauch.
»Gut eingestellt, Fritz«, lobte Dr. Starke. Es war selten, daß Starke Anerkennung verteilte.
»Danke, Herr Doktor.« Kroll sah voll Stolz zu Stellinger hinüber, der aufgeregt seine Unterlippe durch die Zähne zog.
»Und wenn Dr. Burgbach gleich das Licht ausknipst?«
»Dann brennt über der Liege eine kleine Birne. Das reicht.«
»Zehn Lux mit x …« Stellinger konnte es sich nicht verkneifen, das noch einzuwerfen.
Anneliese kam aus dem Röntgenzimmer und zog hinter sich die Tür zu. Sie drehte das Licht aus, aber sie hatte die Beleuchtung im Sucherrahmen der Röntgenkamera angelassen. Und auch die kleine Lampe über der Liege brannte.
»Bravo, Frau Doktor!« rief Kroll begeistert. »Jetzt hab' ich Licht genug. Daran habe ich nicht gedacht. Jetzt sollen Sie mal sehen, wie die Elektronik aufhellt!«
»Ausgesprochen raffiniert, schöne Kollegin.« Dr. Starke stand hinter Anneliese und sprach ihr in den Nacken. Sie spürte seinen Atem und wartete darauf, daß seine Hände zu ihren Hüften oder nach vorn über ihre Brüste tasteten. Da alle den Monitor umlagerten und gebannt auf den Bildschirm starrten, beachtete sie keiner. Sie würden erst herumfahren, wenn ihre Hand klatschend in Starkes Gesicht landete.
Aber Dr. Starke besaß ein Gespür für kritische Situationen. Die Versteifung von Annelieses Nacken warnte ihn. Sie wartet, sie liegt auf der Lauer, wie ein Scharfschütze wartet sie, daß das Opfer seine Deckung verläßt. Er lächelte und sagte leise: »Ich erkenne Sie immer mehr. Mosaiksteinchen auf Mosaiksteinchen. Es ergibt ein faszinierendes Bild. Neuer Stein: Sie kann auch raffiniert sein. Dieses Steinchen fehlte mir noch.«
»Kümmern Sie sich um den Monitor«, zischte sie und trat zur Seite. »Ich habe das Wunder hinter mir.«
Ut hatte sich neben Thuy auf einen Hocker gesetzt und sprach mit ihm. Sie sprach so leise, daß selbst das Richtmikrofon, das Kroll neben der Kamera aufgehängt hatte, nur ein undeutliches Gemurmel wiedergab. Auch Hung zuckte mit den Schultern.
Thuy warf den Unterleib hoch. Ein dumpfer Schmerzschrei ließ alle aufschrecken. Sein Gesicht war zu einer schrecklichen Fratze verzerrt.
Und dann geschah das, was Anneliese erlebt und geschildert hatte: Ut begann ihr kreiselndes Streicheln, untermalt von ihrem Gebet. Es war schwer zu hören, aber Hungs gute Ohren fingen doch die Worte auf.
»Verstehst du was?« fragte Stellinger und stieß ihn in die Rippen.
»Sie betet.«
»Das hör' ich auch. Was betet sie?«
»Vater unser, der du bist im Himmel …«
»Ungeheuerlich«, sagte Dr. Herbergh leise. »Das ist einfach unglaubhaft …«
»Jetzt bleibt sie stehen«, flüsterte Hung und begann wieder heftig zu schwitzen.
»Wieso stehen? Sie bleibt doch sitzen!« sagte Stellinger heiser.
»Im Gebet bleibt sie stehen. Sagt immer die gleiche Stelle: Dein Wille geschehe wie im Himmel auch auf Erden …«
»Das ist falsch.« Stellinger war froh, auch etwas Kluges sagen zu können. Ein Bayer kann beten, das Vaterunser allemal. »Es muß heißen …«
»Seien Sie still, Franz!« Anneliese winkte ab und verdarb Stellinger einen Beweis seiner Klugheit. »Ob richtig oder falsch, es hilft!«
Atemlos starrten Dr. Herbergh und Dr. Starke auf den Monitor. Sie sahen nun selbst, was sie Anneliese nicht hatten glauben wollen: Thuy, das inoperable Ca, wurde ruhig, begann zu lächeln, streckte sich und schlief ein. Dreimal warf Ut die Hände in die Luft und schleuderte die Schmerzen weg, so klar und erkennbar, daß Kroll betroffen murmelte: »Paß auf meine Kamera auf!«
Erst als Ut die Hände in den Schoß sinken ließ, atmeten alle wieder voll durch. Sie sahen auf dem Bildschirm, wie Ut nach dem Eimer Wasser suchte, dann aufstand, völlig kraftlos und fast taumelnd hinüber zu dem Handwaschbecken schlurfte,
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