Das goldene Meer
heute nimmt man Revolver und Maschinenpistolen – das ist sauberer.
Geliebtes Muttchen, so ist unser Leben an Bord der ›Liberty of Sea‹. Ich muß die Augen weit offenhalten, ich spüre, daß noch viel Ungewöhn liches über uns hereinbrechen wird.
Sei umarmt und geküßt von Deinem Sohn Herbert, der jeden Tag an Dich denkt.
Erschöpft, aber befreit von aller Angst, lag Ut auf der Frauenstation, einem Zimmer mit vier weißlackierten Betten, weißer Bettwäsche und einem permanenten Desinfektionsgeruch. Julia hatte ihr beim Ausziehen geholfen. Ut war so schwach gewesen, daß sie die Jeans nicht allein herunterstreifen konnte. Jetzt trug sie ein bodenlanges Nachthemd, ein ihr völlig fremdes Kleidungsstück, das auch noch viel zu weit war, und sie fragte sich, wie die Weißen in einem solch lästigen Ding überhaupt schlafen konnten: Überall war Stoff, klebte auf der Haut, war im Weg, schob sich hoch, rollte sich zusammen. Aber um das Wohlwollen, das Julia ihr entgegenbrachte, nicht zu gefährden, ertrug Ut dieses Nachthemd.
Vor Hung und seinem Fanatismus war sie hier sicher, aber wie lange? Nur bis morgen? Brachte man sie dann wieder zurück unter Deck? Wer kümmerte sich jetzt um die Kinder? Nahm Hung Rache an ihr und warf sie in der Nacht ins Meer?
So kraftlos sie war, so unendlich müde nach dem Einfangen der Schmerzen, das immer schwerer wurde, je mehr der Tumor in Thuy wuchs, der Gedanke an ihre Kinder ließ Ut nicht schlafen. Julia, die nach einer Stunde zu ihr kam, fand sie im Bett sitzend vor, mit schreckensweiten Augen und ineinander verkrampften Händen. Sofort kontrollierte sie Puls und Herzschlag und drückte Ut in das Kissen zurück.
»Was ist denn?« fragte Julia. »Tut dir etwas weh?«
Ut verstand sie nicht, aber sie schien zu ahnen, was Julia fragte. Sie schüttelte den Kopf, griff plötzlich nach Julias Händen und umklammerte sie mit einer erstaunlichen Kraft. »Xuong …« sagte Ut. »Xuong … hiiierr …«
»Ich soll Xuong rufen?« fragte Julia.
Ut nickte. Ihre Augen flehten. »Xuong … hiiiierr …« Das einzige deutsche Wort, das sie konnte. Irgendwo hatte sie es gehört.
»Ich will sehen, ob ich ihn finde«, sagte Julia und ging hinaus. An der Treppe zur Brücke traf sie auf Dr. Herbergh. Er war auf dem Weg, Hugo Büchler bei der Wache abzulösen.
»Ut will Xuong sprechen. Unbedingt. Hat das etwas zu bedeuten, Chef? Ut ist sehr aufgeregt.«
»Überlegen Sie mal, Julia.« Dr. Herbergh tippte Julia auf die Schulter. »Sie sind Mutter …«
»Nein.« Julia spürte, wie Röte in ihr Gesicht stieg. »Das weiß ich nun genau, Herr Doktor …«
»Sie sind Mutter und haben drei kleine Kinder.«
»Aha. Ut …«
»Woran denkt eine Mutter, wenn die Kinder allein sind?«
Julia nickte und kam sich sehr dumm vor. »Ich werde mich sofort um sie kümmern, Herr Doktor. Ganz klar, daß Ut unruhig ist. Darf ich sie mit auf die Station nehmen?«
»Gegenfrage: Wollen Sie Ut länger auf Station behalten?«
»Ich dachte, das sei ganz in Ihrem Sinne. Wegen der anderen Experimente mit ihr. Von mir aus kann sie gehen, wann sie will. Die nächste Schmerzeinfangung ist ja schon am Abend.«
»Was haben Sie da eben gesagt, Julia?« Dr. Herbergh lachte und legte den Arm um Julias Schulter. »Schmerzeinfangung, das ist ein feines, neues Wort. Das merken wir uns. Unsere Julia als Wortschöpferin …«
Den ganzen Weg über Deck bis zum Niedergang zum Unterdeck hatte Julia damit zu tun, die Umarmung durch Dr. Herbergh zu verkraften. Es war das erstemal, daß sie dem Chef so nahe gekommen war, und sie war sich klar darüber, daß dies keine Geste der Annäherung gewesen war, sondern eine freundschaftliche, fröhliche Aufwallung. Trotzdem, bei Julias ausgeprägtem erotischem Gefühl, das auf jede innere Schwingung reagierte, war diese Umarmung wie ein heißer Strom gewesen, der sie durchrann. Etwas Einmaliges, das wußte sie. Es würde sich nicht wiederholen.
Xuong saß auf einem Schemel auf dem Vorderdeck und erhob sich sofort, als Julia zu ihm kam. Er sah schon wie eine Respektsperson aus. Fritz Kroll hatte ihm eine Hose und eine Jacke von sich gegeben, aus der Kleiderkammer hatte er ein neues Hemd, Strümpfe und Sandalen bekommen, Xuong trug das alles trotz der Hitze des Tages, und jeder betrachtete das als selbstverständlich. Xuong war der Lehrer, der kluge Mann, der Vorsitzende des Schiffsparlaments, das Oberhaupt, von allen gewählt. So etwas muß man schon äußerlich erkennen können.
»Ut
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