Das goldene Meer
Stethoskop ab. »Herz in Ordnung. Keine außergewöhnlichen Geräusche. Aber sie sollte mehr essen und trinken. Sie ist völlig entkräftet. Ich glaube, wir behalten sie eine Zeitlang hier, Anneliese.« Er zog das Hemd wieder über den Körper der Vietnamesin und stellte sich an die Wand neben Anneliese. Sie blickte hinüber zu Ut. Xuong stand am Fußende des Bettes und sprach auf sie ein. Sie antwortete, mal leise, mal lauter, mal stockend, dann schnell, in einer Tonlage, singend und unentwegt. Xuong unterbrach sie nicht. Er hatte es endlich erreicht, daß Ut redete. Fasziniert sah Anneliese, wie sich bei diesem Gespräch ständig Uts Augen veränderten. Mal waren sie verkniffen und schmal, mal groß und glänzend, dann sprang Angst in die Augen, der Blick signalisierte Panik, Erschrecken, wurde zu einem Hilfeschrei und wich dann wie erlöst zurück.
Als Ut schwieg, stieß sich Xuong vom Bett ab und drehte sich zu Anneliese und Dr. Starke um. In seinem Gesicht war nichts zu lesen. Es war die glatte Maske eines undurchdringlichen Wissens. Was er von Ut gehört hatte, übersetzte er ebensowenig, wie Hung es getan hatte. »Ut ist erschöpft«, sagte er nur und bot damit nichts Neues. »Sie möchte im Hospital bleiben. Aber nur mit ihren Kindern. Sie hat Angst, daß ihre geheimnisvollen Kräfte bekannt werden und man sie als Hexe verfolgt.«
»Das also ist es.« Anneliese forschte in Xuongs Gesicht. Es blieb undurchdringlich. »Was hat sie noch gesagt? Sie hat die ganze Zeit gesprochen.«
»Man kann viele Worte in einem Satz sagen, Frau Doktor. Wenn tausend Rosen in einem Garten duften, und man nimmt eine von ihnen heraus zu sich, dann ist der Duft der einen Rose so wie der Duft der tausend Rosen …«
»Sehr poetisch, Xuong. Aber mich interessiert alles, was Ut gesagt hat. Ich will mich zwischen die tausend Rosen setzen, nicht eine herausnehmen.«
»Wir müssen die Kinder holen«, antwortete Xuong verschlossen. »Darf ich sie hierherbringen?«
»Ja. Vorläufig jedenfalls. Wenn wir wieder ein Boot aufnehmen, werden wir die Betten brauchen.« Dr. Anneliese Burgbach erhob sich von ihrem Hocker und blieb nahe vor Xuong stehen. Ihre Blicke kreuzten sich wie Klingen.
»Sie lügen, Xuong!«
»Sie sehen es so, Frau Doktor …«
»Ich habe sehr gute Augen.«
»Wer nur Lügen sieht, versteht manchmal die Wahrheit nicht.«
»Wir nennen das Notlüge, Xuong. Ist die Wahrheit so schrecklich?«
»Ich muß die Kinder holen.« Xuong verbeugte sich wieder tief vor Anneliese. »Hier hat die Zeit uns eingeholt.« Er drehte sich um und verließ, mit aller Würde, die er zeigen konnte, das Zimmer. Aber draußen auf Deck wurde er schnell und rannte, als hetze man hinter ihm her, zur Treppe des Unterdecks.
Dr. Starke schlug die Hände zu einem lautlosen Klatschen zusammen. »Donnerwetter, Sie können ja hart wie Stahl sein. Sie sind der Ansicht, Xuong lügt?«
»Er weiß jetzt von Ut alles. Wir wissen gar nichts. Angst hat sie, ihre Kinder will sie bei sich haben, sie will das Hospital nicht verlassen, sie glaubt, ihre Landsleute sehen in ihr eine Hexe. Wilhelm, was geht da vor? Was folgern Sie aus den wenigen uns bekannten Tatsachen?«
»Es stinkt irgendwo gewaltig! Ut fühlt sich bedroht.«
»Das sehe ich auch so. Sie hat eine tödliche Dummheit gemacht: Sie hat uns ihre übernatürlichen Kräfte gezeigt. Das erkennt sie jetzt und sucht Schutz bei uns. Und sie weiß sogar, woher ihr Tod kommen wird.«
»Himmeldonnerwetter! Und warum sagt Xuong uns nichts davon?« Dr. Starke hieb die Fäuste gegeneinander. »Den Kerl knöpfe ich mir vor! Durch alle Poren wird der pfeifen.«
»Er wird schweigen, Wilhelm. Schweigen, und wenn Sie ihm die Haut abziehen.«
»Das habe ich noch nie geübt«, versuchte Dr. Starke einen Scherz. Aber gleich darauf wurde er wieder sehr ernst. »Ist das Hospital ein sicherer Platz? Ich bezweifle das. Wenn jemand Ut an den Kragen will, dann bietet ein Krankenzimmer keinen Schutz. Der Mörder meldet sich krank, bezieht zur Beobachtung ein Bett im Nebenzimmer, und in der Nacht ist dann alles vorbei. Anneliese, nehmen Sie Ut und die Kinder zu sich. Ihre Kabine ist groß genug. Und auf der Erde zu schlafen sind sie gewohnt.«
»Das ist mal eine gute Idee von Ihnen, Wilhelm.« Anneliese schenkte ihm einen dankbaren Blick. Aber gleich darauf sagte sie: »Sie bestätigen das Sprichwort: ›Auch ein blindes Huhn findet ab und zu ein Korn.‹«
»Wenn schon: Hahn!« Dr. Starke hob belehrend den Zeigefinger.
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