Das goldene Meer
Plastikeimern, Bambusmatten und Decken entdeckte er im trüben Licht der von der Decke baumelnden Glühlampen in einer Ecke Uts Kinder. Sie waren wie junge Hunde zusammengekrochen, bildeten ein Knäuel auf den Holzplatten, und schienen an Wand und Boden zu kleben.
»Steht auf!« sagte Hung gerade und bückte sich, um das älteste Kind, einen Jungen, hochzureißen. Der Junge reagierte wie eine in die Enge getriebene Schlange, er biß blitzschnell zu. Mit einem Fluch zog Hung seine Hand zurück und schüttelte sie. Dann betrachtete er sie, sah, wie ein paar dünne Tropfen Blut aus dem Biß quollen und stieß den Kopf vor. »Du Ratte!« sagte er dumpf. »Und wie eine Ratte wirst du auch ersaufen. Deine Hexenmutter kann dir nicht helfen.«
»Dafür gibt es andere …«
Hung fuhr herum und prallte bei dieser Bewegung mit Xuong zusammen, der dicht hinter ihm stand. Der Abstand zwischen ihnen betrug keine zehn Zentimeter. Wenn sie sprachen, wehte der Atem dem anderen ins Gesicht.
»Er hat mich gebissen«, sagte Hung und hielt seine Hand hoch. »Sie dir das an, Lehrer. Ich blute. Würdest du so etwas nicht bestrafen?«
»Warum hat das Kind dich gebissen?«
»Sie schreien oben: Truc ist gekommen. Ich wollte die Kinder verstecken, damit Truc sie nicht findet. Aber sie weigern sich aufzustehen.«
»Truc kommt doch nicht auf unser Schiff!«
»Wer weiß das? Kannst du das genau sagen, Xuong? Wer kommt gegen Truc an? Hat man dir gesagt, was er mit Kindern macht? Kinder sind für ihn nutzlos, Belastungen, kein Kapital wie ihre Mütter. Ich will Uts Kinder retten.«
»Du lügst, Hung!« sagte Xuong, ohne seine Stimme zu erheben.
»Ich mag ihre Kinder. Sie sind mir ans Herz gewachsen. Und was ist der Dank, der Junge beißt mir in die Hand.«
»Die Ratte …«
»Im ersten Zorn sagt man viel Unkontrolliertes, Lehrer.«
»… die man ersäufen will.«
»Nimm es doch nicht so ernst. Wenn man dich beißen würde …«
»Ich weiß, was du mit den Kindern planst, Hung. Ut hat es mir erzählt. Jetzt, wo alles an Deck und an der Bordwand steht, wäre eine gute Gelegenheit. Niemand achtet darauf, wenn auf der anderen Schiffsseite drei Kinder ins Meer stürzen. Auch ihre Schreie hört man nicht, sie gehen unter bei über hundert anderen Stimmen.«
»Xuong, was redest du da?« Hung holte ein Taschentuch aus der Hose und drückte es auf die Bißwunde. Kleine, spitze Zähne hatten sich auf seinem Handrücken eingegraben, es sah tatsächlich aus wie ein Schlangenbiß. »Was hat Ut gesagt? Wer kann das ernst nehmen?«
»Ich.«
»Ut ist krank, sehr krank. Krank an der Seele, krank im Geist. Hast du das noch nicht gemerkt? Blick in ihre Augen, Lehrer, sie schaut dich aus einer anderen Welt an. Sie ist gar nicht mehr unter uns.« Hung warf einen Blick auf die zusammengekrochenen, verängstigten Kinder. Der Junge hatte seine Arme um die kleineren Geschwister gelegt und sie an sich gedrückt. Er beschützte sie. So klein er noch war, sein Instinkt befahl ihm, die noch Schwächeren zu verteidigen. Auch gegen diesen dicken, bösen Mann, der ihn mit kalt funkelnden Augen angestarrt hatte. In dieser Sekunde wußte der Kleine, daß er stark und mutig sein mußte. »Einer muß sich um die Kinder kümmern«, sagte Hung schleimig. »Nur das wollte ich, Lehrer. Wer würde sich sonst um sie kümmern? Sie waren wie ausgesetzte junge Katzen.«
»Die man einfängt und ertränkt. Du sagst es, Hung!« Xuong Stimme war von einer Kälte, die den dicken Dolmetscher innerlich erschauern ließ. Er überlegte, ob er weggehen oder sich auf einen Streit mit Xuong einlassen sollte, man wußte ja nicht, was Ut ihm erzählt hatte, aber seine Gegenwart bewies andererseits, daß sie die Drohungen nicht für sich behalten hatte. Er zog das um seine Hand gewickelte Taschentuch enger und entschloß sich, zunächst die Niederlage hinzunehmen. Zunächst. Noch war man, wenn alles nach Plan verlief, drei Wochen auf See und dann auf den Philippinen im Auffanglager Batangas, wo die Flüchtlinge, für die man einen neuen Platz zum Leben gefunden hatte, auf ihren Weitertransport warteten. Hier würden sie in zweistöckigen, mit Palmblättern gedeckten Bambus- und Strohhäusern leben, umgeben von einem hohen, dichten Drahtzaun – ein Durchgangslager und doch die Vorstufe zum Paradies, denn nur, wer die Aufnahmegarantie eines Landes besaß, durfte von Bord der Liberty und in dieses Transitlager. Hier zu warten, war eine Gnade des Himmels, oder auch nur die Gnade eines
Weitere Kostenlose Bücher