Das goldene Meer
dem Südchinesischen Meer.«
»Wir hatten vor zwei Stunden eine Begegnung mit Truc Kim Phong.«
»Gott im Himmel, hat er euch überfallen?«
»Dann würde ich wohl nicht anrufen können. Nein, er hat uns eine Demonstration seiner Unbesiegbarkeit gegeben.«
»Das mußt du mir näher erklären, Fred.«
»Er hat uns vier Flüchtlinge mit durchgeschnittener Kehle herübergeschickt. Wir lagen Seite an Seite mit ihm, nur knapp dreihundert Meter entfernt. Einen Toten, eine junge Frau, haben wir an Bord geholt und fotografiert. Was man mit ihr getan hat, das kann man mit Worten kaum beschreiben. Das muß man sehen.«
In Köln schloß Hörlein für einen Moment die Augen. »Schick mir vom nächsten Hafen die Fotos«, sagte er dann. »Vielleicht wird man in Bonn wach und begreift, daß wir aus humanitären Gründen die Menschen aus dem Meer fischen und nicht aus reinem Privatvergnügen.«
»Diese Fotos kann man nicht veröffentlichen, Albert.«
»Aber auf den Tischen der Politiker können sie liegen.«
»Zwei Sekunden, dann dreht man sie um. Ein Blick genügt, dann kommt das große Würgen.«
»Wenn diese zwei Sekunden bewirken, ein anderes Denken zu wecken, dann sind es wertvolle Sekunden. Schick mir die Bilder nach Köln. Wann lauft ihr Manila an?«
»Geplant ist, in drei Wochen. Wir müssen Treibstoff bunkern.« Dr. Herbergh zögerte mit der Frage, aber er stellte sie dann doch. »Wie viele Aufnahmegarantien habt ihr schon?«
»Einhundertzwanzig.«
»Und was machen wir mit den anderen, Albert?«
»Wir bemühen uns, für alle einen Platz zu bekommen. Die ganze Welt kennt mittlerweile unsere Aktion. Überall Zustimmung, Gratulation, fabelhafte Fernseh-, Funk- und Zeitungsberichte, Beifall von allen Rängen, natürlich nicht aus dem kommunistischen Lager …«
»Und keiner will sie haben. Ist es so?«
»Wir bemühen uns ununterbrochen, Fred. Den Namen Liberty of Sea kennt fast jeder in Deutschland und in der freien Welt. Bei uns häufen sich Briefe, Artikel und Beifallstelegramme, eine große Zeitung in Kanada schreibt, man solle das Komitee für den Friedensnobelpreis vorschlagen, aber«, und jetzt wurde Hörleins Stimme deutlich bitter, »es sind alles nur sehr schöne Worte, unverbindliche Phrasen. Fragt man konkret: ›Wie viele Flüchtlinge nehmt ihr auf?‹, zieht man die Decke über den Kopf. Hilfe ist einfach, wenn sie ein Lippenbekenntnis bleiben kann, und das Schrecklichste ist das Vergessen. Wir betteln um Plätze für 600 aus dem Meer gefischte, vor dem Ersaufen gerettete Flüchtlinge, und einmal – ist das schon so lange her, daß keiner sich mehr erinnern kann? – waren Millionen Deutsche auf der Flucht und suchten eine neue Heimat. Hat man zu ihnen gesagt: Hier ist kein Platz mehr! Laßt euch von den Russen überrollen! Was geht uns euer Schicksal an! So wie man heute sagt: Vietnamesen? Was soll's! Na ja, und wenn sie ersaufen, im Südchinesischen Meer – wo ist das überhaupt? –, das ist ihr Problem. Das ist aus diesem Land geworden, Fred, so haben sich die Menschen geändert, die einmal selbst nur noch ihre Haut retten konnten. Man sollte darüber nicht verzweifeln, man sollte es täglich, immer, ohne Pause, in die Welt hinausschreien: Seht sie euch an, die Satten, die ihre Erinnerung mit einem Panzer aus Fett ummauert haben!«
»Das ist ein Generationsproblem, Albert.« Dr. Herbergh blickte hinüber zu Dr. Starke. Der war mit der Stirn auf den Tisch gefallen und begann laut zu schnarchen. Jegliche Eleganz, auf die er soviel Wert legte, war im Alkohol ertränkt. »Die Deutschen, die damals in endlosen Kolonnen über die Landstraßen zogen, auf den Trittbrettern, Puffern und Dächern der Züge hockten, die im Winter 1945 ihre Kinder und Greise beim großen Treck nach Westen an den Straßenrändern begruben, diese Generation stirbt dahin, die gibt es bald nicht mehr. Aber solange es sie noch gab, haben sie in die Hände gespuckt und das Trümmerfeld Deutschland wieder aufgebaut, immer mit dem Gedanken: Unsere Kinder und Enkel sollen es einmal besser haben als wir. Nun haben sie satte Kinder und Enkel. Auch wenn wir fast zwei Millionen Arbeitslose haben, Elendswohnungen, Sozialgettos, Rentnerelend, alle sind reich gegen die armseligen Menschen, die wir aus dem Meer fischen. So reich, daß sie im Chor rufen: Raus mit den Ausländern! Was sollen wir mit diesen Asiaten?!« Dr. Herbergh holte tief Atem. Er hatte sich in eine beklemmende Erregung geredet. »Sieh es einmal so, Albert. Unsere
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