Das goldene Ufer
umgestürzte Bäume lenken. Einmal passierten sie sogar ein Haus, das vom Blitz getroffen und bis auf die immer noch rauchenden Grundmauern niedergebrannt war.
Gisela starrte hinaus und stupste Walther plötzlich an. »Siehst du das eigenartige Wegkreuz dort? An dem sind wir damals vorbeigekommen!«
»Wann?«, fragte Walther verwundert.
»Auf dem Weg von Waterloo nach Paris. Erinnerst du dich denn nicht?« Erregt wischte Gisela sich über die Stirn und kämpfte gegen die Tränen an, die in ihr aufsteigen wollten.
»Wie gerne hätte ich noch einmal am Grab meiner Eltern gebetet. Jetzt, da ich weiß, dass es nur ein paar Tagesreisen dorthin ist, fällt es mir besonders schwer, darauf zu verzichten.«
Walther überlegte kurz und zuckte dann mit den Achseln. »Wenn du willst, können wir bei der nächsten Poststation nach einer Kutschenlinie fragen, die nach Brüssel fährt. Das ist mit dem Eintrag in unserem Pass vereinbar.«
Doch Gisela schüttelte den Kopf. »Verzeih, dass ich so eigensüchtig war. Du konntest doch auch nicht am Grab deiner Eltern beten. Also werde ich ebenfalls darauf verzichten. Wir sollten lieber zusehen, dass wir rasch nach Le Havre und von dort weiter nach New York oder Boston kommen.«
»Am Grab meiner Mutter hätte ich gerne noch ein letztes Mal gebetet«, gab Walther zu. »Mein Vater liegt jedoch irgendwo in Russland begraben.«
»Genau wie so viele andere, die ich kannte und die von dort nicht zurückgekommen sind!« Nun musste Gisela sich doch die Tränen aus dem Gesicht wischen.
Sie war damals noch ein kleines Mädchen gewesen, aber sie erinnerte sich an die große, brennende Stadt und die armseligen, zerlumpten Gestalten, die verzweifelt versucht hatten, die Heimat zu erreichen, und dabei in den Weiten des Landes ihr Leben verloren.
Den Rest des Tages hingen die beiden ihren Gedanken nach, denn sie hatten nun erst richtig begriffen, was hinter ihnen zurückblieb, wenn sie in Le Havre ein Schiff bestiegen. Gisela dachte an Schwester Magdalena, an die Köchin Cäcilie und Luise Frähmke. Diesen drei gutherzigen Frauen hatte sie viel zu verdanken, doch es war ihr nicht vergönnt gewesen, sich auch nur von einer von ihnen zu verabschieden. Auch Walther erinnerte sich an Freunde, die auf seinem Lebensweg zurückgeblieben waren, wie den Musketier Reint Heurich vom Regiment Renitz, der ihn als Trommelbuben unter seine Fittiche genommen hatte, und Stephan Thode, der ihn als Erster auf eine Auswanderung in die Vereinigten Staaten aufmerksam gemacht hatte. Auch Landolf Freihart kam ihm in den Sinn, jener unermüdliche Streiter für die Freiheit, die auf deutschem Boden so massiv unterdrückt wurde, und Professor Artschwager, dessen Familiennamen er für seine Flucht gewählt hatte. Zuletzt musste er an Holger Stoppel denken, den viel zu früh verstorbenen Förster auf Renitz.
Gisela und Walther wurde nun zum ersten Mal mit aller Klarheit bewusst, dass sie in ein Land ziehen würden, dessen Menschen ihnen völlig fremd waren. Dort würden sie neue Freunde finden und gut darauf achten müssen, sich niemanden zum Feind zu machen. Beide klammerten sich an die Hoffnung, dass ihnen das Glück und Giselas Heilige beistehen würden.
Drei Tage später tippte die dicke Französin Gisela an und zeigte durch das Fenster nach vorne. »Le Havre!«, sagte sie lächelnd. Trotz aller Verständigungsprobleme hatte sie begriffen, dass die Hafenstadt das Ziel des deutschen Paares war.
Gisela blickte nun ebenfalls zum Schlag hinaus und sah die Stadt vor sich liegen. Die Masten der Segelschiffe im Hafen ragten weit über die Dächer, und ihr schien, als würden sie ihr zuwinken.
»Le Havre«, antwortete sie lächelnd und sagte sich, dass hier nun die letzte Etappe ihrer Flucht nach Amerika beginnen würde.
Achter Teil
Die Schrecken des Ozeans
1.
H underte von Menschen wimmelten im Hafen und machten einen ohrenbetäubenden Lärm. Lastenträger drängten sich rücksichtslos durch die Menge. Nicht weit von Walther prügelten sich ein paar Matrosen, die der strengen Disziplin an Bord für einige Stunden entkommen waren, und überall boten ordinär aufgeputzte Huren ihre Dienste an.
Walther schob eine der Frauen, die zu aufdringlich wurde und ihm in den Schritt greifen wollte, erbost beiseite und ging weiter. Er bedauerte aber sofort, nicht achtgegeben zu haben, denn einer der Lastenträger stieß ihm eine Kistenkante gegen den Oberschenkel.
»Kannst du nicht aufpassen, du Trottel«, schimpfte
Weitere Kostenlose Bücher