Das goldene Ufer
die Sache erledigt, und er stieg wieder nach oben. Bertrand folgte ihm, kehrte aber eine gute Viertelstunde mit einem großen Becher zurück, der eine scharf riechende Flüssigkeit enthielt.
»Was ist das?«, fragte Walther.
»Starker Apfelschnaps mit ein paar Kräutern und Pulvern, wie wir sie bei Verletzungen an Bord benutzen«, erklärte der Matrose und forderte die Frau des Verletzten auf, das Mittel ihrem Mann einzuflößen.
Es dauerte eine Weile, bis der Kranke unter mehrfachen Hustenanfällen das Gebräu geschluckt hatte. Dann lag er regungslos in seiner Hängematte und dämmerte weg.
»Die Medizin bekommt er jetzt zweimal am Tag, bis es vorbei ist«, erklärte Bertrand.
Während die Sippe des Alten immer noch auf Rettung hoffte und dessen Frau sich trotz ihrer Abneigung bei dem Matrosen bedankte, war Walther längst klar, dass der Kapitän und seine Leute den Verletzten bereits aufgegeben hatten. Der Schnaps war nur noch dazu da, um ihn ruhig zu halten, damit er die anderen Passagiere und vor allem die Seeleute nicht störte.
Gertrude sah es genauso. »Welch ein Jammer! Da bricht dieser alte Mann mit seiner Familie in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf und findet nur ein Grab in den Wassern des Ozeans.«
Diese Vorstellung erschütterte Gisela so, dass sie zu weinen begann.
»Was hast du, mein Schatz?«, fragte Walther besorgt, doch sie schüttelte nur den Kopf.
»Nichts! Du weißt doch, dass wir Frauen gelegentlich Launen haben.«
»Vor allem schwangere Frauen!« Gertrude hatte Gisela lange genug beobachtet, um sich ein Bild machen zu können.
»Bist du schwanger?«, rief Walther fassungslos aus.
Gisela senkte schamvoll den Kopf. Noch immer war sie im Zweifel, ob nun Walther oder Diebold der Vater des Kindes war, und in trüben Minuten wünschte sie sich, es zu verlieren.
»Es sieht so aus«, flüsterte sie tonlos.
»Aber das ist doch wunderbar!« Walther schloss sie freudestrahlend in die Arme, während Gertrude sich ihre Gedanken machte. Die junge Frau benahm sich in ihren Augen nicht wie eine glückliche Gattin, die ihr erstes Kind erwartete. Dann aber sagte die Elsässerin sich, dass dies eine Sache war, die nur die Eheleute etwas anging.
Sie legte ihre Hand auf Giselas Arm und strich dieser über die Wange. »Wenn du Hilfe brauchst, wende dich nur an mich.«
»Das mache ich gerne!« Gisela war erleichtert, eine Frau bei sich zu wissen, der sie vertrauen konnte. Gleichzeitig verstärkte Walthers überschäumende Freude ihre Seelenqualen. Würde er sich nicht in Abscheu von ihr wenden, wenn er die Wahrheit erfuhr? Doch was war die Wahrheit? Er konnte ebenso gut der Vater des Kindes sein, und es würde auf sie selbst zurückfallen, wenn er sein eigen Fleisch und Blut für Diebolds Bastard hielt und schlecht behandelte.
Einen Augenblick überlegte sie, sich Gertrude anzuvertrauen. Doch das hatte sie nicht einmal bei Cäcilie und Luise Frähmke gewagt, und die beiden waren ihre besten Freundinnen gewesen. Sie konnte ihr Geheimnis nur einem Priester beichten und hoffen, dass Gott ihr verzeihen würde.
7.
D er alte Mann lebte noch vier Tage, in denen er abwechselnd vor Erschöpfung schlief oder seine Schmerzen hinausschrie. Dann war es vorbei.
Seiner Frau und seiner Tochter blieb kaum Zeit, über seinem Leichnam zu trauern. Während sich die Männer der Sippe noch zu fragen schienen, wie es ohne die Leitung ihres erfahrenen Patriarchen weitergehen sollte, erschien Bertrand, dem zugetragen worden war, dass der Alte nicht mehr lebte. Ihm folgten einige Matrosen, die den Toten in einen Sack steckten und diesen nach oben trugen. An Deck packten sie noch eine Kanonenkugel in den Sack und nähten ihn zu.
»Heraufkommen!«, brüllte Bertrand ins Zwischendeck hinab.
Wie betäubt folgten ihm die Verwandten des Toten und die anderen Passagiere. Gisela und Walther mussten ebenfalls an Deck steigen, hielten sich aber wie Gertrude Schüdle und Martin Jäger weit weg von den Normannen, die ihrer Trauer lautstark Ausdruck verliehen.
Nun versammelten sich auch die Matrosen an Deck, und als Letzter erschien Kapitän Buisson. Mit dem Hut in der einen und einer Bibel in der anderen Hand stellte er sich vor die Auswanderer.
»Wir übergeben heute einen Mann der See. Daher lasst uns beten«, übersetzte Gertrude seine Worte.
Walther und Gisela hatten während ihrer Zeit an Bord zwar etliche französische Ausdrücke und Floskeln gelernt, doch einer längeren Rede vermochten sie noch nicht zu folgen.
Weitere Kostenlose Bücher