Das goldene Ufer
Allerdings fasste Buisson sich kurz. Er betete ein Vaterunser und las einen Vers aus der Bibel vor, dann gab er Bertrand einen Wink.
Zusammen mit einem anderen Matrosen packte dieser den Sack. Die Männer schwangen ihn hoch und warfen ihn über Bord. Es klatschte, und der Tote versank in den Fluten des Ozeans.
»So, das wäre erledigt! Ihr könnt wieder hinuntergehen«, fuhr der Kapitän die Passagiere an.
Zunächst standen alle wie erstarrt, dann stiegen die Ersten zurück ins Zwischendeck. Die Sippe des Toten blieb jedoch oben. Während die meisten Männer ihren Zorn über die in ihren Augen unwürdige Zeremonie zum Ausdruck brachten, packte die Witwe den Kapitän am Ärmel und schlug mit der anderen Hand auf ihn ein. Dabei kreischte und schrie sie, so dass Gisela sich die Ohren zuhielt.
»Was ist los?«, fragte Walther Gertrude.
»Die Frau ist verzweifelt, weil ihr Mann ohne den Segen eines Priesters unter die Erde gebracht oder – besser gesagt – ins Wasser geworfen worden ist.«
Buisson stieß die Witwe zurück und herrschte ihren Sohn an. »Bring die alte Hexe nach unten und sorg dafür, dass sie das Maul hält, sonst wird sie in den Kielraum gesperrt!«
»Wahrlich ein würdiges Begräbnis!«, stöhnte Gisela und betete, dass sie selbst oder Walther nicht unter ähnlichen Bedingungen wie Abfall über Bord geworfen wurden.
Weiter vorne hob Thierry seine Mutter auf und redete gemeinsam mit seiner ältesten Schwester auf sie ein. Die Frau hörte auf zu schreien, schluchzte aber zum Herzerweichen, während ihre Familie sie nach unten brachte. Gisela, Gertrude, Walther und Martin Jäger verließen nun ebenfalls das Deck und kehrten zu ihren Plätzen zurück. Zum Reden war keinem zumute.
Einige Zeit später kam Bertrand mit einem Becher herab und reichte diesen Thierry. »Hier, das ist reiner Apfelbranntwein. Flöße ihn deiner Mutter ein, damit sie schläft. Morgen ist sie hoffentlich ruhiger. Sonst lässt der Kapitän sie wirklich in den Kielraum sperren. Dort aber gibt es Ratten und Matrosen, die große Bedürfnisse haben …«
»Wenn es einer wagen würde, sich an meiner Mutter, meiner Schwester oder einer anderen Frau aus unserer Sippe zu vergreifen, bringe ich ihn um«, drohte Thierry, und Bertrand hatte keinen Zweifel, dass es dem Normannen damit vollkommen ernst war.
»Versuche es lieber nicht. Die Matrosen knallen dir einen Belegnagel über den Schädel und werfen dich über Bord, gleichgültig, ob du noch lebst oder nicht«, riet er ihm leise und stieg wieder nach oben.
Gisela schüttelte es, als Gertrude ihr den Wortwechsel übersetzte. »Wo sind wir nur hineingeraten?«, fragte sie ihren Mann.
Walther konnte ihr keine Antwort geben. Mit der rechten Hand strich er über den Koffer, in dem er die Pistole wusste und das kleine Päckchen Munition, das er in Diebolds Taschen gefunden hatte. Vielleicht aber würde er statt der kleinen Waffe seine Büchse benötigen. Wenn er den Schrotlauf mit den Rehposten lud, konnte er sich ein ganzes Rudel Matrosen vom Leib halten. Bislang hatte er nicht einmal erwogen, auf Buisson und dessen Leute zu schießen. Doch wenn es einer wagen sollte, Gisela zu nahezutreten, würde er es tun.
Mit diesem Vorsatz stellte er sich neben Giselas Hängematte, um seine Frau zu streicheln und zu beruhigen. Dabei dachte er an das Kind, das sie in sich trug. Es würde in ihrer neuen Heimat geboren werden und war für ihn ein Symbol, dass sie auf fremder Erde anwachsen würden. Zuerst aber mussten sie Amerika erreichen. Er wusste zu wenig von der Seefahrt, um sagen zu können, wie weit sie auf ihrer Reise bereits gekommen waren. Die Entfernung nach New York zählte nicht mehr, weil der Kapitän nicht diesen Hafen anlaufen würde. Doch um wie viel länger würde es dauern, bis sie New Orleans erreichten?, fragte er sich. Mit diesem Teil der Vereinigten Staaten hatte er sich nicht beschäftigt und konnte nur hoffen, dass es auch dort Deutsche gab, die ihm und Gisela mit Rat und Tat zur Seite stehen konnten.
Seine Frau hing ebenfalls ihren Gedanken nach und haderte nicht zum ersten Mal damit, dass das Leben an Bord so grausam war. Dabei waren sie während ihrer bisherigen Fahrt noch nicht einmal in einen Sturm geraten. Es war allein die Geldgier des Kapitäns und seiner Mannschaft, die ihre Situation unerträglich machte. Doch sie berichtigte sich selbst. Der Gestank, der hier im Zwischendeck herrschte und der ihr jedes Mal, wenn sie an Deck frische Luft hatte atmen können,
Weitere Kostenlose Bücher