Das goldene Ufer
schrie er Thierry an, der die Wurst für seinen Vater verlangte. »Ich habe dafür bezahlt, und ich schlage jeden nieder, der sie mir wegnehmen will!«
Gertrude übersetzte rasch, und die anderen wichen zurück.
Empört drohte Thierry mit beiden Fäusten nach oben. »Dieses Gesindel hat uns bestohlen! Ich denke nicht daran, denen unser gutes Geld in den gierigen Rachen zu stopfen.«
Walther konnte den Mann verstehen und sagte sich, dass er auf der weiteren Fahrt vielleicht die Hilfe der größten Sippe unter den Passagieren brauchen konnte. Daher brach er ein Drittel der Wurst ab und reichte sie dem Normannen.
»Für deinen Vater!« Zwei kleine Stücke gab er Gertrude und Martin Jäger, dann kehrte er zu seinem Platz zurück. Dort hatte Gisela unterdessen ihren Napf geleert und sah ihn mit hungrigen Augen an. »Hast du die Wurst bekommen?«
»Ja! Aber oft können wir uns das nicht leisten, sonst kommen wir arm wie Kirchenmäuse in New York an«, antwortete Walther.
Gertrude hatte sich wieder zu Gisela gesellt und schüttelte verblüfft den Kopf. »Wie kommst du auf New York? Das Schiff fährt doch nach New Orleans!«
Walther starrte sie entgeistert an. »New Orleans? Aber der Kapitän hat gesagt …«
Er brach ab und suchte den Zettel heraus, auf dem der Kapitän ihm die Passage bestätigt hatte. Im deutschen Text war nur von Amerika die Rede, aber von keinem bestimmten Hafen, zu dem er gebracht werden sollte. Mit einem Gefühl im Bauch, als würde sein Magen gleich explodieren, reichte er das Blatt an Gertrude weiter und bat sie, ihm den französischen Text auf der Rückseite zu übersetzen.
»Ich weiß nicht, ob ich das vermag. Ich kann zwar Französisch sprechen, aber mit dem Lesen hapert es«, bekannte die Frau und übergab das Blatt Martin Jäger. Dieser überflog es und sah Walther bedauernd an.
»Wie es aussieht, hat Kapitän Buisson dich schamlos betrogen. Dies hier ist ein Vertrag für eine Passage von Le Havre nach New Orleans. Der Name des Zielhafens ist schlecht zu lesen, da die letzten Buchstaben verstümmelt sind. Du hast es wahrscheinlich als New York angesehen.«
»Ich habe den französischen Text gar nicht erst beachtet, sondern auf einen deutschen Text bestanden und hier nicht aufgepasst. Ich könnte mich selbst ohrfeigen!«
Walthers Enttäuschung überwog beinahe seine Wut auf den Kapitän. Als er jedoch an das Gespräch zurückdachte, erinnerte er sich, dass Buisson niemals die Städte New York oder Boston direkt beim Namen genannt hatte. In der Hinsicht war er seinen eigenen Hoffnungen und Wünschen zum Opfer gefallen. Allerdings hatte der Kapitän diese kräftig geschürt und ihn in dem Glauben gelassen, nach New York gebracht zu werden. Rein rechtlich konnte er dem Mann nichts anhaben. Dennoch kam es ihm wie Betrug vor, und er wünschte sich, Buisson einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, ohne dass dieser sich auf seinen Rang als Kapitän berufen konnte.
Unterdessen hatte Gisela die Wurst fast aufgegessen und erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass Walther vielleicht auch ein Stück davon haben wollte. Einige Herzschläge lang sah sie unschlüssig auf das letzte Stückchen, dann streckte sie es ihrem Mann hin.
»Es tut mir leid, aber mehr ist nicht übrig geblieben!«
»Das macht doch nichts! Ich bin froh, dass es dir schmeckt.« Walther steckte den Wurstzipfel in den Mund, doch er hätte ebenso gut Sägespäne kauen können, denn der Ärger, von Buisson hereingelegt worden zu sein, war einfach zu groß. Gleichzeitig fragte er sich, was Gisela und er machen sollten, sobald sie in New Orleans angekommen waren. Von dort war es ein weiter Weg bis nach New York und zu den deutschen Ansiedlungen, von denen er gelesen hatte. Die Reise dorthin würde zusätzliches Geld kosten, das sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Jetzt blieb nur zu hoffen, dass sich auch im Süden der Vereinigten Staaten Deutsche angesiedelt hatten, die ihnen weiterhalfen.
6.
Z wei Tage später fiel Thierrys Vater stundenweise ins Delirium, und wenn er zu sich kam, war er so schwach, dass seine Frau und seine Tochter vergeblich versuchten, ihm etwas Brei einzuflößen. Er wollte nur Wasser, und davon erhielten die Passagiere gerade einmal drei Becher pro Tag. Als der Verletzte immer drängender nach etwas zu trinken rief, verzichteten seine Frau und seine Kinder abwechselnd auf ihren Anteil und gaben ihn dem alten Mann.
Zuletzt überwand Thierry sich und flehte Bertrand auf Knien
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