Das goldene Ufer
dem Moment wurde die Loire ein letztes Mal in die Höhe gerissen. Es gab einen fürchterlichen Ruck, und dann lag das Schiff regungslos in der tobenden See. Zuerst begriff Walther nicht, was geschehen war, doch dann vernahm er Giselas entsetzten Aufschrei. »Wir sind auf ein Riff aufgelaufen, weit weg vom rettenden Ufer!«
Sie schlug das Kreuz und begann wieder zu beten, während Walther vor Enttäuschung die Tränen in die Augen schossen. Dann begriff er, dass die Loire den Launen der Wellen nicht mehr ganz so stark ausgeliefert war, denn sie lag so hoch, dass ihr Deck nur noch selten überspült wurde.
»Vielleicht haben wir doch Glück«, brüllte er über den immer noch heulenden Sturm hinweg. »Wenn das Unwetter abflaut und das Wrack vom Land aus gesehen wird, könnten wir Hilfe erhalten.«
Die anderen Überlebenden waren zu erschöpft, um auf seine Worte zu reagieren. Giselas Heilige, dachte Walther besorgt, würden wohl etliche Wunder bewirken müssen, damit sie festes Land erreichten.
Die Nacht brach herein, ohne dass Hilfe kam, und das Fünkchen Hoffnung, das der eine oder andere auf dem Wrack gehegt haben mochte, erlosch mit dem Tageslicht. Da die Flut zurückging, konnten die Überlebenden die Taue lösen, mit denen sie sich an den Stumpf des Hauptmasts und an den Besan gebunden hatten. Sie ließen sich dort, wo sie standen, auf das Deck sinken. Die ausgestandenen Schrecken und der nächtliche Kampf ums Überleben forderten ihren Tribut. So fielen die meisten in einen unruhigen, von Alpträumen geplagten Schlaf.
Auch Walther fühlte sich zu Tode erschöpft, setzte sich aber auf der dem Land zugewandten Seite des Schiffes hin und starrte in die Dunkelheit hinein.
Endlich ließ der Sturm nach, und kurz darauf entdeckte er ein Feuer, das ein Stück landeinwärts zu brennen schien.
Wer mag es angezündet haben?, fragte er sich besorgt. Immerhin war Amerika alles andere als ein zivilisierter Kontinent. Hinter einem schmalen Rand, den die europäischen Siedler bewohnten, erstreckte sich das Gebiet wilder Stämme, die jedes Weißen Feind waren. Außerdem fragte er sich, ob die Küste, die er in der Nacht nur erahnen konnte, noch zu den Vereinigten Staaten gehörte oder zu einem der Länder, die sich von der Krone Spaniens gelöst und eigene Republiken gegründet hatten.
Doch im Grunde war es gleichgültig, wo sie sich befanden. Sobald der Sturm abgeflaut war, mussten sie aus Schiffstrümmern ein Floß bauen und versuchen, damit das Ufer zu erreichen.
2.
D ie Morgensonne stieg so strahlend über dem Horizont auf, als wären der Sturm und die Todesnot nur Teile eines Alptraums gewesen. So willkommen ihre Wärme dem Häuflein Überlebender auf der Loire auch sein mochte, enthüllte ihr Schein auch das volle Ausmaß der Schäden, die das Schiff erlitten hatte. Es war vom Sturm auf eine Sandbank geworfen worden und lag nun, da die See zurückgewichen war, beinahe hundert Fuß vom Wasser entfernt. Man konnte jedoch erkennen, dass die Loire im weichen Untergrund zu versinken drohte. Das Wrack würde dem nächsten Sturm oder vielleicht sogar der nächsten Flut zum Opfer fallen.
Walther wurde klar, dass sie rasch handeln mussten, und er wandte sich den Überlebenden zu. Unwillkürlich zählte er sie und konnte sein Entsetzen kaum verbergen. Zwar hatte er nie genau ermitteln können, wie viele Menschen Kapitän Buisson in sein dunkles Zwischendeck gestopft hatte, die Gruppe jedoch auf über sechzig geschätzt. Nun sah er außer Gisela nur noch fünfundzwanzig Menschen um sich, darunter einen der beiden Matrosen, die Buisson im Stich gelassen hatte. Es war ausgerechnet Lucien.
Am schlimmsten war jedoch, dass von den fünfzehn Kindern, die mit an Bord gewesen waren, nur noch drei lebten. Die hatte er selbst Erwachsenen auf die Schultern gesetzt und dazu am Mast festgebunden. Den anderen hatte er nur zurufen können, es ebenso zu machen.
Ein Ehepaar am Besanmast hatte dies jedoch nicht gehört oder nicht für nötig gefunden, und so waren deren Kinder bis auf die älteste Tochter ertrunken. Das Schreien der verzweifelten Frau ging Walther durch Mark und Bein, und der Mann sah so aus, als würde er am liebsten über Bord springen und ein Ende in den Wellen suchen.
Walther begriff, dass er die Menschen auf der Loire nicht der Verzweiflung überlassen durfte. »Übersetze bitte, was ich jetzt sage!«, forderte er die Elsässerin auf. »Wir müssen Flöße bauen, um an Land zu gelangen. Zum Glück ist die Küste nur
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