Das goldene Ufer
etwa eine gute englische Meile entfernt. Der Matrose soll uns anleiten, denn er versteht am meisten von der Seefahrt.«
Da es sich bei dem Matrosen um Lucien handelte, wurde Gertrudes Miene starr. Sie sah jedoch ein, dass sie das Wissen des Mannes brauchten. Aber als sie ihn ansprach, ließ sie ihn ihre Verachtung und ihre Wut deutlich spüren.
Lucien sah Walther ängstlich an. Immerhin hatte dieser seinem Kapitän Paroli geboten und war mit seiner ruhigen, überlegten Art zum Anführer der Schiffbrüchigen geworden.
»Wenn mir ein paar Männer helfen, könnte es gelingen. Wir sollten aber mehrere Flöße bauen. Ein großes, das für uns alle reicht, können wir nicht bis ans Wasser schaffen.« Lucien deutete auf die Sandbank, die sich mehr als hundert Schritte in Richtung Ufer ausdehnte.
»Warum schieben wir es nicht auf der anderen Seite ins Wasser?«, fragte Gertrude.
»Weil wir nicht wissen, wo die Sandbank aufhört. Wenn wir dort in eine ungünstige Strömung geraten, trägt sie uns vom Land weg.«
Walther fand den Rat des Matrosen gut und forderte die Männer auf mitzuhelfen. Es dauerte eine Weile, bis er die Menschen aus der Starre, in die sie sich vor den Schrecken des Sturms oder aus Trauer und Verzweiflung geflüchtet hatten, herausgeholt hatte. Einer der Ersten, die mit zugriffen, war Thomé Laballe, dessen Frau ebenfalls überlebt hatte. Da Walther sich erinnerte, wie sorgfältig der Mann ihr geholfen hatte, aus dem Zwischendeck herauszukommen und sich an den Mast zu binden, stiegen die beiden in seiner Achtung.
Anders als Laballe war Thierry zunächst nicht dazu zu bewegen, sich an der Arbeit zu beteiligen. Von den fast zwanzig Personen der normannischen Sippe hatten nur sechs überlebt, darunter seine älteste Schwester und sein kleiner Bruder. Doch Walther durfte keine Rücksicht auf seine Befindlichkeit nehmen.
Da schrie Gertrude den jungen Mann an: »Jetzt bewege endlich deinen Arsch und hilf mit, zum Donner noch mal! Oder willst du, dass wir alle hier krepieren?«
Das war nicht sehr höflich, doch es wirkte. Thierry starrte die Frau an, stand dann auf und schüttelte sich. »Oh Gott im Himmel, warum hast du mich verschont und mich nicht wie meine Eltern und meine Verwandten zu dir genommen!«
»Weil du die Verpflichtung hast, für die Überlebenden deiner Familie zu sorgen!«, fuhr Walther ihn an.
Gertrudes Übersetzung fiel noch schärfer aus und beschämte den jungen Mann. »Es tut mir leid!«
Mit diesen Worten machte Thierry sich an die Arbeit. Er war ein kräftiger Bursche und konnte gut zupacken. Das war auch notwendig, denn wenn es ihnen nicht gelang, bis zum Abend ans Ufer zu gelangen, würden sie eine weitere Nacht auf der Loire verbringen müssen. Ohne Trinkwasser und mit salzverkrusteten Lippen war es jetzt schon eine Qual, und Walther befürchtete, dass einige der zu Tode erschöpften Frauen und Kinder den nächsten Tag nicht mehr erleben würden.
Da der Sturm fast alles von Bord gefegt hatte, mussten die Männer Decksplanken herausbrechen. Den Frauen und Kindern trug Lucien auf, die Reste von Tauen zu spleißen und die einzelnen Stränge zusammenzubinden, damit sie die Planken und Holzteile aneinander befestigen konnten.
Lucien packte überall mit an und sparte nicht mit Rat, als wolle er den schlechten Eindruck, den alle von ihm gewonnen hatten, vergessen machen. Allerdings war Lucien in der gleichen Lage wie sie und würde ebenfalls sterben, wenn es ihnen nicht gelang, an Land zu kommen. Auch nach gründlichem Suchen fand sich auf der Loire nichts mehr, mit dem die Schiffbrüchigen ihren Durst hätten stillen können, geschweige denn ihren Hunger. Sand war in den Laderaum und ins Zwischendeck gedrungen, und darüber stand das eingedrungene Wasser fast bis zu den Luken. Daher war es auch nicht möglich, die Toten zu bergen und an Land zu bringen, damit sie ein christliches Begräbnis erhielten. Selbst Buissons Achterkabine war bis auf die äußeren Balken, zwischen denen sich Trümmer verfangen hatten, weggespült worden.
»Schade«, sagte Walther, nachdem er die Zerstörung begutachtet hatte. »Vielleicht hätten wir sonst die Geldkassette des Kapitäns bergen und das darin enthaltene Geld als Entschädigung für all das mitnehmen können, was wir auf dem Schiff verloren haben.«
Lucien, der ein gebrochenes Englisch sprach, schüttelte den Kopf. »Der Kapitän hat alles mitgenommen. Jetzt liegt es auf dem Grund des Ozeans, und die Seejungfrauen werden sich am Glanz des
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