Das goldene Ufer
sich losgerissen hatten und die auf dem Boden des Zwischendecks Halt suchen mussten. Einige klammerten sich an die Hängematten anderer, doch die heftigen, ruckartigen Bewegungen der Loire überstiegen nur allzu häufig ihre Kräfte. Wer nicht mehr auf die Beine kam, dem drohte der Tod durch Ertrinken, denn das Wasser, das sich im Zwischendeck angesammelt hatte, schwappte fast hüfthoch von einer Seite zur anderen und riss alles mit sich.
Zudem kehrte die Seekrankheit zurück, die sie überwunden geglaubt hatten. Auch Gisela erbrach immer wieder in heftigen Schüben. Aber diesmal kümmerte es weder sie noch Walther, ob sie die Decken oder ihre Kleidung beschmutzte.
»Wenn wir schon sterben sollen, sollte es schnell gehen«, wimmerte sie zwischen zwei Würgekrämpfen.
Walther winkte heftig ab, obwohl sie das nicht sehen konnte. »Solange wir noch leben, besteht Hoffnung.«
»Glaubst du wirklich an Rettung?«
Bevor Walther antworten konnte, hörte er vorne einen grässlichen Schrei. »Was ist los?«, rief er besorgt.
»Jemand will mich packen und unter Wasser ziehen!« Erneut kreischte die Frau durchdringend.
Dann aber erscholl Thierrys Stimme. »Was soll das Geflenne? Es ist nur dieser Leichnam dieses elenden Bertrand! Er hat sich losgerissen und treibt im Wasser. Schiebe ihn mit den Füßen beiseite.«
»Es wird nicht mehr lange dauern«, prophezeite Gisela düster. Kaum hatte sie es gesagt, da bäumte das Schiff sich auf, und sie wurden in ihren Hängematten von einer Wasserwand begraben. Als das Wasser wieder ablief und sie keuchend und spuckend nach Atem rangen, war auch Walther kurz davor, alle Hoffnung fahrenzulassen. Der Rumpf der Loire ächzte, als würde ihn ein Riese Stück für Stück auseinanderbrechen.
Gertrude, deren Hängematte vorne beim Niedergang befestigt war, horchte immer wieder auf die Geräusche an Deck. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und schrie, so laut sie konnte: »Ich glaube, der Kapitän und die Matrosen haben das Schiff verlassen. Wir sind dem Untergang geweiht!«
Erneut stürzte die Loire in die Tiefe, und sie hörten, wie die Wellen über das Deck schlugen. Der Lukendeckel zersprang knallend, und das Wasser ergoss sich wie ein Wasserfall ins Zwischendeck.
Während um sie herum die Menschen ihre Verzweiflung aus sich hinausschrien, kämpfte Walther darum, aus der Hängematte herauszukommen, und zerrte dann Gisela aus der ihren.
»Wir müssen nach oben! Hier unten ertrinken wir.«
»Aber oben werden wir von den Wellen hinweggerissen!«, wehrte Gisela entsetzt ab.
»Dann müssen wir uns irgendwo festbinden!« Walther erinnerte sich an mit Belegnägeln gesicherte Taurollen und hoffte, dass noch nicht alle weggespült waren. Mit einer Hand fasste er Gisela und zerrte sie hoch. Als er sich Richtung Luke schieben wollte, stieß seine freie Hand an den Lauf seiner Doppelbüchse, die er durch die Schnüre am Fußende seiner Hängematte geschoben hatte, um sie jederzeit zur Hand zu haben. Da er nicht wusste, ob er oben mit dem Kapitän konfrontiert würde, zog er sie heraus und warf sie sich über den Rücken.
Gisela mit einem Arm haltend, klammerte er sich mit der freien Hand an die Deckenbalken und schob sich in die Richtung, in der er den Niedergang vermutete. Dabei versuchte er den infernalischen Lärm des Sturms zu übertönen. »Wir müssen an Deck, wenn wir nicht hier unten jämmerlich ersaufen wollen!«
Nun hätte er Gertrude oder Martin Jäger gebraucht, um zu übersetzen. Doch er hoffte, dass das bisschen Französisch, das er sich während der Reise angeeignet hatte, ausreichen würde. Ein paar Verzweifelte antworteten ihm und kämpften sich ebenfalls nach vorne.
Ein weiterer Wasserschwall stürzte den Niedergang herab, doch Walther konnte sich mit einer Hand an den Treppenstufen hochziehen. Mit der anderen umklammerte er nach wie vor Giselas Arm.
»Du musst dich an mir festhalten«, schrie er ihr durch das Heulen des Sturmes zu. Vom Lukendeckel waren nur noch Reste vorhanden, und als er den Kopf durch die Öffnung steckte, bemerkte er zu seiner Überraschung, dass es draußen hell genug war, um das Schiff überblicken zu können. Draußen war kaum etwas unversehrt geblieben. Die Brecher hatten das Deck leer gefegt und große Teile der Reling und anderer Aufbauten weggerissen. Der Hauptmast war abgebrochen, und sein oberer Teil hing wie ein Schleppanker an den Tauen, die ihn noch mit dem Schiff verbanden.
Zwischen zwei Wellen stieg Walther an Deck, zog Gisela
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