Das goldene Ufer
sie doch selbst sammeln können!«
»Pilze wachsen nun einmal nicht an allen Stellen des Waldes«, erklärte Walther ihr. »Um sie zu finden, muss man wissen, wo es sie gibt, und ein Fremder kennt die guten Pilzplätze nicht. Trotzdem hätten sie uns nicht bedrohen dürfen.«
Er arbeitete fleißig weiter, während er darüber nachsann, ob zwei Pilzkörbe es wert waren, einen anderen Menschen zu verletzen, nur weil dieser Hunger hatte. Aber bei den Soldaten hatte er noch ganz andere Geschichten gehört, und so machte er sich keine Vorwürfe. Wenn der Hunger zu groß wurde, aßen Menschen manchmal gar das Fleisch anderer Menschen. Also mochten es die Kerle vielleicht gar nicht auf die Pilze abgesehen haben, sondern auf Gisela und ihn, um sie zu schlachten und zu verzehren. Ein Märchen, das seine Mutter ihm erzählt hatte, kam ihm in den Sinn. Es hatte von einer Hexe gehandelt, die zwei Kinder hatte essen wollen. Die beiden waren ihr dank ihrer Findigkeit entkommen. Ob Gisela und ihm dies bei den Landstreichern gelungen wäre, bezweifelte er.
»Ich habe richtig gehandelt!«, sagte er laut zu sich selbst.
Die Köchin und das Mädchen warfen ihm verwunderte Blicke zu, doch bevor sie nachfragen konnten, kam die Mamsell in die Küche. »Seine Erlaucht will euch sehen, und zwar in seinem Salon«, richtete sie den Kindern aus.
Während Walther erstaunt aufsah, wirkte das Mädchen sofort verängstigt. Bislang hatte Graf Renitz sich nur selten um Walther gekümmert und Gisela kaum wahrgenommen, und so fürchteten sie, für etwas bestraft zu werden, von dem sie nicht einmal etwas wussten. Trotzdem beeilten sie sich, um den Grafen nicht zu verärgern, und liefen die Treppe hinauf. Vor der Tür zum Herrensalon, den sie noch nie von innen gesehen hatten, warfen sie sich noch einen Blick zu und traten ein.
Der große Raum wirkte mit der Wandtäfelung, seiner Kastendecke und dem Fußboden aus dunklem Holz düster und abweisend. Den Kindern fiel sogleich der gewaltige Bücherschrank ins Auge, der die rechte Wand fast ganz bedeckte. Einige Türen standen weit auf, so als hätte Graf Renitz nach etwas gesucht. Tatsächlich hatte der Graf ein großes, ledergebundenes Buch auf den Knien liegen und las im Schein mehrerer Kerzen. Er war so darin vertieft, dass er die Kinder gar nicht wahrnahm.
Walther überlegte, ob er sich räuspern sollte, wagte es aber nicht und wartete ebenso wie Gisela, die von einem Bein auf das andere trat, bis der Graf sie bemerkte.
Endlich blickte Renitz auf und legte sein Buch auf den Tisch. Seine Miene wirkte ernst, als er die beiden betrachtete. »Ich habe mit dem Förster gesprochen. Er sagt, du hättest dich vorbildlich verhalten, Walther!«
Bei diesem Lob wurde der Junge vor Verlegenheit rot. »Ich hatte einfach Angst, Erlaucht.«
»Angst hilft einem manchmal, das Richtige zu tun, wenn der Mut nicht ausreicht.« Der Graf lächelte bitter, so als würde er an etwas anderes denken, und es dauerte einen Moment, bis er seine Gedanken wieder eingefangen hatte.
»Ich habe mich entschlossen, dieses Gesindel aus meinen Forsten zu vertreiben. Aus diesem Grund werde ich alle Männer aus dem Dorf und die Knechte meiner Güter zusammenrufen lassen, um die Wälder zu durchsuchen. Ihr aber werdet in diesem Jahr nicht mehr über die Sichtweite des Schlosses und des Gutshofes hinausgehen. Auch den Kindern aus dem Dorf werde ich vorerst verbieten, den Wald zu betreten.«
Der Graf klang fest entschlossen, das Problem mit den Landstreichern, die sich in der Gegend eingenistet hatten, ein für alle Mal zu beseitigen.
Walther hoffte, mitmachen zu dürfen, doch als er schüchtern fragte, schüttelte Medard von Renitz den Kopf. »Das kommt nicht in Frage! Dafür bist du noch zu jung.«
Enttäuscht senkte Walther den Kopf. Immerhin hatte er bei Waterloo mitten im Kampfgeschehen gestanden und dabei dem Grafen das Leben gerettet. Daher war er das Schießen eher gewohnt als die jungen Burschen aus dem Dorf, die noch nicht beim Militär gedient hatten.
Graf Renitz musterte zuerst ihn eingehend und dann Gisela, die in wenigen Wochen ihr elftes Lebensjahr vollenden würde. Bislang hatte er verdrängt, dass das Mädchen anders als die anderen Kinder auf seinen Besitzungen nicht dem lutherischen Bekenntnis anhing, sondern Katholikin war. Doch nun neigte sich dieses ereignisreiche Jahr dem Ende zu, und schon nahte das Fest der Geburt des Herrn. Da Renitz zu dem Wort stehen wollte, das er Giselas sterbender Mutter gegeben
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