Das goldene Ufer
schüttelte Frau Frähmke den Kopf. »Du kannst dich später von Cäcilie und den anderen verabschieden. Zuerst werden wir deinen Packen schnüren. Wenn der Herr Graf morgen früh einspannen lässt, musst du fertig sein. Hast du verstanden?«
Gisela nickte und beruhigte sich so weit, dass sie alles einpacken konnte, was sie benötigte. Wichtig waren ihr vor allem der Katechismus der Mutter und die Bibel des Vaters, die ihr neben ein paar Münzen und einigen Kleidungsstücken, die sie selbst niemals würde tragen können, als Erbe geblieben waren.
Luise Frähmke war zufrieden, weil das Mädchen sich anstellig zeigte, und sah lächelnd zu, wie Gisela ihre spärlichen Habseligkeiten zusammenpackte. Dabei sagte sie sich, dass das ganze Theater nicht nötig wäre, wenn das Mädchen den evangelischen Glauben annehmen würde. Das war jedoch nicht ihre Sache. Sie musste nur darauf achten, dass die Kleine am nächsten Morgen bereitstand, wenn Graf Renitz aufbrechen wollte.
12.
A n anderen Tagen war Walther abends noch für eine halbe Stunde in die Küche gekommen, um mit Gisela den Lehrstoff des Tages durchzunehmen und ihr zu erklären, was sie vermutlich am nächsten Tag erwartete. An diesem Abend interessierte ihn jedoch mehr, etwas über die Jagd auf die Landstreicher zu erfahren, und so hatte er sich ins Dorf geschlichen. Nun saß er in einer dunklen Ecke der Schenke und lauschte Diebolds Erzählungen und denen seiner Jagdgenossen. Was er von diesen erfuhr, erschien ihm so mutig, dass er sich noch mehr ärgerte, nicht dabei gewesen zu sein.
Nach einer Weile fühlte er eine harte Hand auf der Schulter. Als er aufsah, erkannte er Förster Stoppel, dessen Miene sich sehr von denen der fröhlichen Zecher unterschied, die ihre Heldentaten hinausposaunten.
»Wenn du willst, zeige ich dir, wen diese Männer wirklich erschossen haben«, sagte der Förster leise.
Walthers Augen leuchteten erwartungsvoll auf. »Gerne, Herr Stoppel.«
»Komm mit!« Der Förster verließ die Schenke durch den Nebeneingang, nahm draußen eine Laterne vom Haken und zündete die Unschlittkerze an einer anderen an. Er führte Walther durch die kalte Nacht zur Kirche, öffnete die Pforte und ließ den Jungen ein. Dieser stand einen Augenblick lang in völliger Finsternis, bis ihm der Förster gefolgt war und die Laterne hochhielt.
Hinter dem Kirchengestühl lagen sieben reglose Gestalten auf alten Matten. Zögernd trat Walther näher und sah, dass es sich um einen alten und einen jüngeren Mann, zwei Frauen und drei Kinder handelte, die alle kleiner waren als Gisela.
Verwirrt wandte er sich zu dem Förster um. »Was bedeutet das?«
»Das sind die Landstreicher, die Graf Diebold und die anderen niedergeschossen haben. Die Leute waren unbewaffnet und haben keinen Widerstand geleistet. Dennoch wurden sie aus dem Hinterhalt heraus abgeknallt! Jetzt prahlen die Mörder mit ihren Heldentaten. Dabei hätte es gereicht, diesen sieben Menschen ein Stück Brot in die Hand zu drücken und ihnen zu befehlen, weiterzuziehen.«
Die Stimme des Försters klang so düster, dass Walther sich unwillkürlich schüttelte. »Ich begreife das nicht! Graf Diebold hat doch gesagt …«
»Graf Diebold sagt viel, wenn der Tag lang ist, und nicht alles entspricht der Wahrheit«, antwortete der Förster. »Wundert es dich nicht, warum Graf Renitz nicht selbst bei den siegreichen Helden sitzt? Unser Herr ist nach Hause geritten und schämt sich seines Sohnes, der einer hilflosen Frau in den Rücken geschossen hat und sich dessen noch rühmt!«
Walther starrte ungläubig auf die sieben Toten. Vorhin in der Schenke hatte er eine ganz andere Geschichte gehört, und nun ekelte er sich vor sich selbst, weil er bei dieser Jagd hatte dabei sein wollen. Hätte er dann auf hilflose, halb verhungerte Menschen geschossen? Sicher nicht!, versuchte er sich einzureden. Gleichzeitig begriff er, dass der Förster nicht getötet hatte – und Graf Renitz ebenfalls nicht.
»Es tut mir leid«, flüsterte er bedrückt.
»Dann ist es gut!« Der Förster legte ihm die Hand auf die Schulter. »Geh nach Hause, Junge, und denke immer daran, dass Wahrheit und Schein oft sehr weit auseinanderliegen.«
Stoppel öffnete die Tür und winkte Walther, die Kirche zu verlassen. Dichte Wolken verhüllten die Sterne. Daher brachte er den Jungen bis zum Schloss und machte sich dann auf den Heimweg. Er hatte keine Lust, noch einmal in die Dorfschenke zu gehen und den betrunkenen Prahlereien der anderen
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